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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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bereits eine kleine Sammlung Jahreszahlen auf Abruf parat hat und wie aus der Pistole geschossen sagen könnte, in welchem Jahr der letzte Krieg zu Ende ging, wäre nun in der Lage, in ein Zahlwort zu bannen, wie alt der Bärenkeller sein mag. Die hintere Tür ist abgeschlossen. Der Wolfskopf traut sich und rüttelt kräftig an der Klinke. Der Riegel hat Spiel, das Türblatt pocht gegen den Rahmen. Von oben fällt reichlich Dreck auf die Wolfskopfhände und auf die breite Eichenschwelle vor ihren Füßen. Der Ältere Bruder deutet mit dem spitzen Ende seiner rechten Krücke auf den oberen Winkel, den ein Spinnennetz so ausfüllt, dass es beim Aufgehen der Tür wie ein Siegel zerreißen müsste. Also nehmen sie sich die Fenster vor. Allein der ungebissene Zwillingbleibt kurz zurück und spricht in seinem Kopf zum lieben Gott. Er bittet den großen alten Mann, den er aus den vielen gemeinsam mit seinem Bruder durchexerzierten Himmelswitzen halbwegs gut zu kennen glaubt, dass Sybilles kleine Schwester irgendwo anders, bloß nicht in diesem finsteren, kalten Kasten gefangen gehalten werde. Und dann beugt er sich vor, legt sich die Hände auf die eisigen Knie und rubbelt sie, so fest er kann, um sie wenigstens für den Moment, bevor er losrennt und wieder zu den anderen aufschließt, ein wenig zu erwärmen.
    Frau Roser ist schon ein wenig kühl. Frau Roser war so frei, hat sich erlaubt, bereits ein wenig auszukühlen. Obwohl die warme Luft im Zimmer stockt, obwohl die geschlossenen Vorhänge die Sonnenhitze nicht draußen halten konnten, spürt ihre Schwiegertochter, fünf schneewittchenweiße Fingerspitzen auf der feingerillten, braunfleckigen Stirn der Greisin, wie viel Wärme der atemlose Körper schon verloren hat. Herr Doktor Junghanns hatte gestern Abend angedeutet, dass es in der Nacht zu Ende gehen könnte. Aber am Morgen hatte sich die Sterbende wie in den Wochen zuvor, pünktlich um neun, auf die Toilette führen lassen, hatte dann, wieder im Bett, beide Hände um das geblümte Porzellan ihrer großen Sammeltasse gelegt und mit vielen winzigen Schlucken die gewohnte Menge schwarzen Kaffees getrunken. Als die Schwiegertochter nach der leeren Tasse griff, wurde sie von der Todesnahen erstaunlich fest am Handgelenk gepackt. «Schenk mir noch einmal nach. Nein! Brüh mir einen stärkeren auf. Ich muss den Kreislauf aus dem Keller bringen. Es wird schon dunkel, die Nachtbereitschaft geht bald los, und heute Nacht wird Schwester Emmi noch einmal gebraucht!» Dann wies sie auf das Fenster, wo die Morgensonne diegelben Vorhänge zum Leuchten brachte, und nickte ihrer Schwiegertochter augenzwinkernd zu, als machte dieser Anblick jede weitere Erklärung überflüssig.
    Während die junge Frau in der Küche die Kaffeemühle drehte und, wie ihr aufgetragen worden war, nicht mit den Bohnen sparte, konnte sie aus dem Zimmer ihrer Schwiegermutter, durch die nur angelehnte Tür, das an- und abschwellende Murmeln einer Wechselrede hören. Bis jetzt hatte die Greisin nie mit sich selbst gesprochen. Wahrscheinlich geriet sie durch die Spritzen, die ihr Herr Doktor Junghanns neuerdings spendierte, allmählich doch in die Kulissen einer anders aufgestellten Welt. Mit einem wirklich finsteren Kaffee, mit einem Aufguss, der fast ölig in der Tasse schwappte, ging sie erneut hinüber. Das Zimmer schwamm in gelbem Licht. Und daran, wie der von zwei Kissen Gestützten der Mund aufklaffte, wie das künstliche Gebiss seltsam schief zur Unterlippe stand, begriff die junge Frau, dass der verlangte Wachtrunk nun auf dem Nachtkästchen erkalten durfte und dass sie ihre eigene nächste Tasse an der Bettkante einer langsam auskühlenden Toten schlürfen würde.
    Die Fenster der Bärenkellerwirtschaft, gegen deren steinerne Simse Sybille als die Größte den Halsausschnitt ihres Drachenkleides drückt, scheinen ausnahmslos fest verschlossen. Guckloch auf Guckloch reiben die Kinder in den Schmutzbelag der Scheiben, um jedes Mal aufs Neue einsehen zu müssen, dass der Schimmer, der aus dem nächtlichen Garten ins Innere der Räume sickert, viel zu schwach ist, um etwas erkennbar zu erhellen. Aber dann geht es um die Ecke auf die Breitseite des Hauses, und jede weitere Fensterguckerei erübrigt sich, weil sie gemeinsam die strahlend helle Rampe sehen. Das ist der Schlund des Bärenkellers! Dageht es lockend tief hinunter. Dem Schniefer fällt sogleich auf, wie weit die beiden Rillenbänder im Beton der Abfahrt auseinanderliegen. Der Abstand ist viel

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