Roman unserer Kindheit
hat. Im oberen Türspalt erscheint an einem garstig beflaumten Hals, an einem fast rührend dünnen, unnatürlich langen, feuchten Stängel, ein Kopf, ein spiegelnacktes Schädelchen. Die übergroßen, glubschig gewölbten Augen gieren hin zur Mutter, in einem flehenden Verlangen, auf eine Weise mitleidheischend, die keinen Widerstand, keine Weigerung, kein Nein zu dulden gesonnen ist. Der Hals wächst noch. Der Hals verjüngt sich wachsend wie ein in die Länge gezogener Schlauch. Der Hals biegt sich nach vorne. Der Kopf neigt sich über den Grat der Tür. Er wackelt. Er rüttelt. Stets scheint der Gierer etwas artikulieren zu wollen. Und dann, während das bislang in seinerStummheit perfekte Spiel an der Klippe zum ersten Wörtlein stockt, bemerkt die Gelähmte das Schlimmste, das wiederum mit aller Kraft bis in den letztmöglichen Moment aus der Wahrnehmung Hinausgestemmte: Das Sprechloch des Gierers ist elend missgestaltet: Statt zweier Lippen, anstelle der Zähnlein eines Ober- und Unterkiefers, klaffen die weichen Kanten eines noch nicht ausgereiften, weil seinem Ei zu früh entrissenen Schnabels. Der schnappt ins Leere, schnappt in die Nachtluft und giert, das weiß die Mutter ganz genau, mit diesem Schnappen nach nichts anderem als nach der Milch in ihren unerträglich gespannten Brüsten.
Die Kinder spüren in Knien und Waden, dass der Weg auch hinter der Rampe sanft in die Tiefe führt. Der Schniefer wendet den Kopf, um einen letzten Blick auf das Behindertenmobil zu werfen. Er prägt sich dessen halbkugelrundes Heck ein, kneift dann die Lider kurz zusammen und stellt sich noch einmal vor, wie das Gefährt von vorn aussieht. Er will, falls sein Vater später, im Sonnenlicht, nach bestimmten Einzelheiten fragt, nicht dumm dastehen. Womöglich ist das Fahrzeug längst auf und davon gebraust, wenn sie mit Sybilles kleiner Schwester auf dem Rückweg wieder hier erscheinen. Feiner als ein Geruch fliegt unseren Schniefer die Ahnung an, der Ausstieg könne auch woanders liegen, aber schon fordert der unmittelbare Fortgang seine ganze Achtsamkeit. Die Wände krümmen sich nach rechts. Es ist eine ganz weit gezogene Kurve. Dazu gewinnt der Stollen an Breite und an Höhe. Das Licht des Autochens kann ihnen nicht mehr in die Biegung folgen, aber zum Glück kommt es nun auch von vorn ein wenig hell.
Die Zwillinge rennen voraus, während die anderen sich mit dem Tempo begnügen, das der Ältere Bruder auf seinenKrücken vorgibt. Der Wolfskopf hört das scharfe Kratzen, mit dem die rechte, die angespitzte Krücke unseres großen Bruders sich vom Boden löst, und glaubt die Eile der Zwillinge zu verstehen. Die sollen sich ruhig gehörig sputen! Der Wolfskopf guckt auf den roh betonierten, mit dicken Kieseln gespickten Grund und grollt den beiden. Schließlich sind sie an allem schuld. Sie waren es doch, die Sybilles kleine Schwester mit ihrem blöden Gewitzel hierhergetrieben haben. Obwohl er groß ist und den dicksten Schädel im Hof hat, obwohl er, was er jetzt wieder ganz deutlich spürt, manchmal sogar mit den Haaren denken kann, ist es ihm viele Male nicht gelungen, herauszubekommen, wo in dem, was die beiden aufgeplustert herausposaunten, das Lustige verborgen war. Nichts anderes als diese hundsgemeine Unverständlichkeit muss, Witz auf Witz auf Witz, Sybilles Schwester immer weiter in die Verrücktheit hineingetrieben haben. Der Wolfskopf nickt sich selber, nickt diesem prima Gedanken zu. Seit ihrem Fahrradunfall, seit er dem Professor Felsenbrecher beim Rupfen und Zupfen, Schneiden und Vernähen und beim Erzählen zugeschaut hat, ist er sich sicher, dass er ein blutiges Stückchen mehr als seine Freunde vom Schuldigwerden und von den Strafen, die den Schuldigen blühen, versteht.
Oben wollen die beiden Kameraden handeln. Der Kommandant hat dem Fehlharmoniker eine Telefonnummer aufgeschrieben, unter der er ab sofort rund um die Uhr erreichbar sei. Sie steht, mit kindlich großen Ziffern aufgemalt, im weißen Textfeld einer dritten Postkarte, die er am liebsten, voll verlegener Habgier, für sich behalten hätte, nun aber, die Bildseite nach oben, auf den Tisch klatscht. Erneut ist das Lichtbild wunderschön. Der Mann ohne Gesicht stauntüber das klug gewählte Hochformat, bestaunt ein blondbezopftes Mädchen, das gleich seinen beiden Vorgängerinnen im Evaskostüm bis an die Oberschenkel in finsterem Wasser steht. Sie hat den Kopf im Nacken liegen, als betrachte sie die Sterne oder erwarte, in Einklang mit dem
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