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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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entsprang seine Entschlossenheit vor allem dem Schreck darüber, dass er zum ersten Mal nicht wahrgenommen hatte, was dem anderen an seiner Seite zu Ohren gekommen war.
    Jetzt sind sie auf der Scheidemauer. Der nächtliche Garten hält für die sieben Kinder so still, wie er nur kann. Der Schniefer atmet durch den offenen Mund, um die noble Lautlosigkeit des Bärenkellers nicht mit dem Rasseln seines verrotzten linken Nasenlochs zu stören. Vorhin, als er, auf den Schultern des Wolfskopfs stehend, als Erster auf die andere Seite lugte, ist etwas Helles zwischen den schwarzen Stämmen der Kastanien in Richtung Haus gehuscht. Es half und hilft ihm nichts, dass er dieses besondere Weiß erkannt hat. Im Gegenteil, gerade dieses Wissen macht ihn stumm. Es würde nichts erklären, sondern alles noch schlimmer verworrenmachen, wenn er den anderen nun erzählte, wo er das bleiche Glänzen dieses Hautgewands schon einmal gesehen hat. Wenn alles geschafft ist, wenn sie mit vereinten Kräften Sybilles kleine Schwester gerettet haben, will er dem Älterem Bruder, der ihm ein besonderer, ein wirklich großer Freund ist, alles beichten. Sobald sie wieder zusammen Fahrrad fahren, sobald der Ältere Bruder sich wieder auf einen Sattel schwingen und in die Pedale stampfen kann, will er ihm zum Schnurren ihrer vier Reifen, so gut er es hinkriegt, von den beiden Trichtern, vom Buchen- und vom Kinotrichter, berichten. Und dann soll unser großer Bruder die ganze Trichterglotzerei als eine richtige Geschichte, also als etwas, wofür die Hauptperson nicht wie ein armer Affe ausgelacht wird, sondern im Gegenteil als Held aufglänzt, an die Herzen der anderen legen. Der Schniefer springt. Er springt hinunter. Das Gras des Bärenkellers raschelt bei seiner Landung künstlich, fast technisch kalt. Fünf Sommer wird es dauern, dann wird unser Schniefer als frischgebackener Lehrling mit den Plastikborsten des Werkstattbesens die Stahllocken zwischen den Drehmaschinen ineinanderschieben, dabei dies Rascheln wiederhören und sich blitzlichtkurz, ein erstes und ein letztes Mal, an das Nachtgras der Gartenwirtschaft erinnern.
    Der Ami-Michi und der Wolfskopf folgen seinem Winken und lassen sich nacheinander von der Mauer fallen. Sybille bemerkt erst jetzt, dass sie zwischen den Zwillingen sitzt, dass diese nicht wie sonst die Schultern aneinanderdrücken. Also nimmt sie die beiden, um die ungewohnte Trennung aufzuheben, bei den Händen, bevor sie mit den Pobacken nach vorne rutscht. Zu dritt geht es hinunter, zu dritt sind Sybille und die Brüder ein sausendes Momentchen aus derZeit, während der Schniefer und der Ami-Michi schon an die Ziegel treten, um dem Wolfskopf zu helfen, unseren großen Bruder auf den Boden der Sommernachtsseite zu bekommen. Sie stellen sich dabei so wunderbar geschickt an, als hätten sie die nötigen Griffe längst insgeheim geübt. Schon steht der Ältere Bruder frei vor der Mauer, schon stößt er die zugespitzte rechte Krücke zur Probe in den Grund. Alle hören den knirschenden Widerstand, den alten, von tausend Schritten festgestampften Kies unter dem Gras. Der Schniefer schnaubt durch beide Nasenlöcher. Der Wolfskopf kratzt sich in den zu lange nicht gewaschenen Haaren. Sybille sieht, wie die Zwillinge einander mit den Ellenbogen suchen, verfehlen und dann doch noch finden. Alle sind ein respektreiches Sekündlein still, alle stehen eine eiserne Sekunde stramm. Und unser Ami-Michi weiß auf einmal, dass die wackeren Arbeitsmänner, die hier, an dieser Stelle, beim Aufrichten der Mauer mit den Absätzen ihrer Stiefel die Kieselsteinchen in den lehmigen Grund getrampelt haben, vom Ältesten bis zum Jüngsten mausetot sind, weil sie gleich anschließend mit geschulterten Schaufeln, ohne dass auch nur Zeit gewesen wäre, die mörtelbespritzten Schuhe gegen glänzend schwarz gewichste auszutauschen, nach Westen und nach Osten in den Krieg gezogen sind.
    Es knirscht. Der Mann ohne Gesicht schwenkt den zur hochgezogenen rechten Schulter hingeneigten Schädel wie einer, der versucht, sich Wasser aus dem Ohr zu schütteln. Das Knirschen kümmert sich nicht drum. Der Mann ohne Gesicht greift sich, als könnte er das lästige Geräusch mit Fingern fassen, an den Kopf. Für alle anderen, die ungern genauer hinschauen, ist der Unterschied kaum zu erkennen, aber für ihn, den Einzigen, der seine Ohren berührt, ist dierechte Muschel fühlbar kleiner als die linke. Wahrscheinlich rührt dies schlicht daher, dass die Wanne ihres

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