Roman unserer Kindheit
einzuflößen, wird die Erde feucht. Aus dem Grund der beiden Schächte dringt Nässe ans Licht. Es suppt nach oben. Und als die Großen zu ihnen treten, als auch der Ältere Bruder, Sybille, der Schniefer und der Wolfskopf den Blick vor die Mauer des Bärenkellers senken,sind die Löcher, die ihr Sommersofa dort hinterlassen hat, schon beinahe bis oben hin mit einer Art von Wasser, mit einer schlierig rot schimmernden Brühe, vollgelaufen.
Mein wackerer Mann ohne Gesicht guckt währenddessen bloß in seine Kaffeetasse. Das Warten macht ihn unruhig. Gegen Nervosität trinkt er seit jeher Tee oder Kaffee, oft beides nacheinander und schließlich sogar durcheinander, bis ihm irgendwann von all der maßlosen Beruhigungstrinkerei die Finger zittern. Zur Probe hält er sich jetzt die Rechte vor seine imaginäre Nasenspitze. Noch steht sie fest wie eine Eins, noch könnte er ohne Fehlversuch einen Faden durch ein Nadelöhr bugsieren. Der Kommandant ist in der Nähe. Er spürt es seit der letzten Tasse überdeutlich, aber er widersteht der Versuchung, auf gut Glück loszurennen und sich in den Straßen der Neuen Siedlung nach dem hellen Schopf des Ersehnten umzusehen. Ihr Kommandant konnte früher nicht ausstehen, wenn einer aus der Mannschaft seinem Willen eigenmächtig vorgriff. Und auch die Mäuse hatten ihm zum Abschied nicht nur zur Vorsicht, sondern auch zu Geduld und Beharrlichkeit geraten. Im Tassengrund hat sich ein wenig schwarzer Satz gesammelt. Er schwenkt die Körnchen mit dem Rest der Brühe rundum über das weiße Porzellan. Er zählt die schwarzen Punkte, die oben kleben bleiben, und gibt das Zählen wieder auf. «Kobommt Zeibeit, kobommt Rabat!», wurde ihm in der letzten Nacht von seinen Waldgefährten altklug vorgefiepst. «Bloboß keibeineben Schnebellschubuss!», warnte ihr Chor – wortgleich wie einst der Kommandant! Und ihre allerletzte Spruchweisheit, ihr langgezogenes «Maban soboll deben Tabag nibicht vobor seibeinebem Ababebend lobobeben!» klang ihm betulich ernst und zugleich herzzerreißend komisch in den Ohren.
Sommernacht
Und auf der anderen Seite ist es unversehens Nacht. Die Kinder sitzen auf der Mauer. Gerade eben, beim Hinaufklettern auf den Grat aus nacktem Backstein, sind ihre Beine noch sommerlich braun gewesen. Aschgrau baumeln sie nun über dem finsteren Grund des Gartens. Keinen der Freunde kümmert, dass ihnen unsere gute Sonne noch immer mütterlich den Rücken wärmt. Ihre Augen haben den kunterbunten Weltkreis hinter sich gelassen. Alle Pupillen haben sich geweitet, alle Gedanken sind auf die dunkle Spur gestellt. Der Bärenkeller schlägt sie in seinen Bann. Bloß ich, das naseweise Sommerfrüchtchen, richte den Blick noch einmal nach oben, wo der Himmelskuppel ein dünner, knochenbleicher Scheitel zwischen Tagblau und Nachtblau gezogen ist.
Auch unser großer Bruder könnte die Halbierung des Firmaments bemerken, zumindest wie sie sich auf seinem bandagierten Bein abbildet, das noch ein Weilchen zur Erholung von der Quälerei des Kletterns auf den obersten Ziegeln ruhen darf. Was Schwester Innocentia gestern spiralig aufgewickelt hat, wird hier auf der Mauer der Gartenwirtschaft fast pingelig präzis in eine linke und in eine rechte Hälfte, in schniekes Tagweiß und in nächtlich schmutziges Beige geschieden. Es ist, als hätten sich zwei Schalen auf seinem Knie, auf seinem Schienbein und auf dem Rist des Fußes zu einer auch für alle tieferen Schichten gleichermaßen gültigen Naht geschlossen.
Vorhin hat nur einer den Hilferuf vernommen. Die Großen, der Wolfskopf, der Schniefer, Sybille und auch der Ältere Bruder, alle schauten gleich blickdumm und stumpfohrig dem Ami-Michi zu. Denn ausgerechnet unser Michi, den es am meisten vor dem roten Wasser grauste, hatte sich hingehockt, um schnell eine Zeigefingerspitze in die Brühe zu tunken, die offenbar, genauso zügig, wie sie aufgestiegen war, wieder in den Grund des Hangs versickern musste. Er steckte den Finger sogar noch in den Mund, murmelte, dass es nach gar nichts schmecke, allenfalls ein wenig süß, da merkte ein Zwilling auf und wies zum oberen Rand der Mauer. «Sie ruft: Sybille, hilf mir!» Der am Vortag Gebissene sagte dies beiläufig, fast wie zu sich selbst. Er dachte, auch die anderen hätten den Schrei gehört. Aber selbst sein gleichaltriger Bruder guckte ihn zunächst nur mit großen Augen an. Und als er verspätet doch noch nickte und ein «Wir müssen auf die andere Seite!» hinterherschob,
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