Roman unserer Kindheit
Fotografenwillen, das Herabschweben eines Vogels, der verspätet auf sein Ruhegewässer eindreht. Alles ist derart schwarzweiß, dass man sich auch das Unsichtbare, also alles, was keine Kontur bekommen durfte, mühelos vorstellen kann. Das Bild hätte jedwede Zeit der Welt verdient. Aber sein Eigentümer duldet keinen Aufschub. Wie weit sei es zur nächsten Fernsprechzelle? Er kenne bloß die Kabine am Ende des Kreuztöterwegs, vis-à-vis der größeren Kirche. Ob es hier in der Neuen Siedlung noch eine zweite, nähere gebe? Der Mann ohne Gesicht schüttelt den Kopf und prägt sich die Nummer, es sind ja nur fünf Ziffern, ein. Das Mädchen, dem die unglaublich dicken Zöpfe bis über den untersten Rippenbogen baumeln, steckt er, ohne zu fragen, neben die andere nächtliche Nackte an den Küchenschrank. Dann nimmt er seinen Werkzeugkasten aus dem Eck, reißt dessen Henkel mit so viel Schwung in die Höhe, dass der Inhalt klirrt und Sputnik in Erwartung eines Aufbruchs unter dem Tisch hervorgeschossen kommt. «Lass Sputnik hier. Wir gehen bloß die Treppe hoch.»
Wie erwartet leistet das simple Schloss unter der Klinke dem Dietrich keinen nennenswerten Widerstand. Aber die Ehrhards, die hier oben wohnen, die beide bei der Sparkasse beschäftigt sind und sich im nächsten Sommer ein erstes Kindchen leisten wollen, haben vor kurzem nicht nur einen Spion, sondern auch ein zweites Schloss, einen modernen Sicherheitsschließzylinder, ins Türblatt setzen lassen. Der Fehlharmoniker reicht seinem Kameraden das Werkzeugan. Zwei Hiebe mit dem Fäustel, dem kurzen, aber schweren Hammer, treiben das kleinere der beiden Brecheisen zwischen Tür und Türstock, ein einmaliges Hebeln reißt die Schrauben aus dem Holz. Pech nur, dass ausgerechnet in den Knall des zweiten Hammerschlags das Klinkenschnappen der Haustür fällt. Wischmann-Waschmann hört, vor die Briefkästen getreten, den Türstock splittern. Er zögert keine Sekunde, zieht sich die Umhängetasche über den Kopf, stellt sie an die Wand und schleicht, nicht weil sein Mut, sondern weil seine Neugier mit ihm durchgeht, so leise es die Gummisohlen seiner Dienstschuhe erlauben, die Treppe hoch.
In der Wohnküche sucht der Mann ohne Gesicht erfolglos nach dem Fernsprechapparat. Er geht ins Schlafzimmer, wo Frau Ehrhard vor dem Weggehen die Bettdecken makellos glatt gestrichen hat, wo ihm über den senkrecht aufgestellten Kissen ein Jesusknabe, fast lebensgroß im Tempel, aus einem Öldruck halb streng, halb mild entgegensieht. Aber weder auf den Nachttischschränkchen noch auf der Frisierkommode kann er das Telefon entdecken. Er kehrt in den Flur zurück, schaut nach der grauen Leitung. Der Fernmeldemonteur hat sie direkt unter der Decke aus dem Hausflur hereingeführt. Sie läuft am Stock der Badezimmertür entlang nach unten, die Buchse ist in den Winkel von Fußleiste und Türrahmen geschraubt. Die Schnur des Apparats führt unter der Türkante ins Bad.
Der Fehlharmoniker sieht indes durch die Froschlinse des Spions, wie Wischmann-Waschmann die letzten Stufen nach oben pirscht, und fasst das Brecheisen ein wenig fester. Es wird nicht einfach sein, den Rumpf des Briefträgers im schmalen Streif der dem rechten Auge verbliebenen Sichtluke zu halten, wenn es gleich heißt, hinauszustürmen und hart,aber nicht mörderisch zuzuhauen. Hinter der Badtür hebt der Mann ohne Gesicht das Telefon neben der Kloschüssel vom Boden. Er setzt sich auf den Deckel und wählt. Der Postler draußen im Treppenhaus spitzt die Ohren. Er hört das Schnurren, mit dem der Teller in seine Ausgangsposition zurückdreht, macht lauschend einen letzten, extraleisen Schritt bis an die Wohnungstür und sieht die tiefe Delle auf Höhe des zweiten Schlosses.
Kein Wunder, dass Wischmann-Waschmann, alle Sinne wie zu einem Pfeil nach vorn gespitzt, das Tapsen hinter sich nicht wahrnimmt. Dabei will Sputnik gar nicht schleichen. Aber seit sie den ihr befohlenen Warteplatz hinter der angelehnten Wohnungstür verlassen hat, lastet das hündische Wissen, auch mit allem weiteren Tun gegen den Willen ihres Herrchens zu verstoßen, schwer auf ihrem starken Nacken, und deshalb setzt sie die Pfoten noch sachter, als es sonst schon ihre Art ist. Der Mann ohne Gesicht hört ein erstes, ein zweites und ein drittes Tuten. Am anderen Ende, am Anschluss des Kommandanten, klingelt es also an. Wischmann bemerkt, wie sich das Glas des Spions verdächtig aufhellt, macht einen Schritt zurück, sieht noch die Tür aufgehen,
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