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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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zu groß für die Spurbreite des Vehikels, das stumm das Licht seiner eng beieinanderstehenden Glubschäuglein nach oben sendet. Der Schniefer könnte den anderen verraten, dass dies nicht lang so bleiben kann. Sein Vater, der sich regelmäßig über die Elektrik seines Motorrades ärgert, hat ihm erklärt, wie an einem Fahrzeug die nötige Helligkeit zustande kommt. Dieses Autochen hat bestimmt auch bloß eine mickrige Motorradbatterie, die allenfalls ein knappes halbes Stündchen Strom hergibt, sobald der Zylinder des Zweitakters stillsteht. Aber der Schniefer hält den Mund, er spürt, sie brauchen sich nicht um die Zukunft dieses Lichts zu kümmern.
    Sybille, die als Erste am Hinterrad des Behindertenmobils vorbeigeht, bemerkt, wozu dessen putzig kleine, eiartig vorgewölbte Heckleuchten nun gut sind. Mitten in dem roten Fleck, den das linke Rücklicht auf den Boden wirft, liegt eine der weißen Sandalen. Nachdem ihr Schwesterchen die neuen Lacksandalen verloren hatte, ist sie dazu verdonnert worden, für den Rest dieses Sommers Sybilles alte weiße aufzutragen. In ihrem akuten Stumpfsein fand sie sich klaglos damit ab, obschon vor ihren Zehenspitzen so viel leere Sohle blieb, dass sie von den Fröhlich-Geschwistern sogleich gehänselt wurde. Sybille beugt sich über den Schuh, der einmal ihrer war. Es ist in diesem Augenblick unendlich lange her, aber sie kann sich noch perfekt daran erinnern, wie sehr die vorderen Schnallen, obwohl bereits in jede ein zusätzliches Loch geknipst war, zuletzt beim Laufen und noch mehr beim Rennen drückten und ihr am Abend zwei rote Streifen über die Zehen liefen. Der Wolfskopf hebt die Sandale auf, bietetsie Sybille an, und als die abwinkt, schiebt er den offenen Knöchelriemen unter einen Lederhosenträger und schnallt den Schuh wie etwas Abgeschossenes, wie eine erste Beute ihrer Nachtjagd, daran fest.

Sommernacht
    Die Mutter aber schleppt sich durch den Tag. Die Mutter der Brüder hat nicht nur zu wenig, was längst die Regel ist, sondern auch unvermutet schlimm geschlafen. Zwischen Gestern und Heute riss der Abgrund eines alten Übels auf. Wie aus dem Nichts ist der Gierer zu ihr zurückgekommen. Dabei hatte sie gegen Mitternacht, bevor sie zum Sturm auf das Schlusskapitel ihres Romans ansetzte, eigens drei statt zwei ihrer Frauenhilfsdragées genommen. Sie wollte nach der letzten Seite, nach dem Zuklappen des Buches, zügig in jene schwarze Watte sinken, die ihr die Nachtruhe bedeutet, seit Doktor Junghanns ihr die Wunderpillen, bedenklich kopfschüttelnd, aber doch jeden Monat neu verschreibt. Der Vater sieht es nicht gern, wenn sie, auf dem Bettrand sitzend, den kleinen Plastikzylinder schüttelt, damit ihr das Klackern schon vor dem Stöpselziehen versichert, dass sie noch genug Vorrat hat. Aber er weiß auch, was er den unscheinbaren, eischalenfarbenen Linsen, die sie, ohne etwas dazu zu trinken, hinunterschluckt, verdankt.
    Durch Mark und Bein ist ihm der halberwürgte Schrei, das Gurgeln und Japsen, stets gegangen, mit dem sie sich links von ihm auf ihrem Kopfkissen ins Wachsein kämpfte. Der Alb hatte wenige Tage nach der Geburt des Älteren Bruders debütiert und trat danach mit stupider Regelmäßigkeit, mindestens sechsmal die Woche, auf die Schaubühne für Nachtgespinste. Immer war die Kulisse dabei gleich, und sieist auch zurückliegende Nacht erneut unverändert aufgebaut gewesen. Der Mutter träumt, sie liege fest schlafend in ihrem Bett. Aber ihre Augen stehen in Erwartung des Kommenden bereits weit offen. Der lidschlaglose Blick der Schläferin ist rettungslos auf die geschlossene Schlafzimmertür gerichtet. Aus diesem Schacht des Hinschauens gibt es kein Entrinnen. Immer geht irgendwann die Tür auf. Abscheulich langsam löst sich die obere Kante ihres milchig weißen Blatts vom grobkörnigen Grau des Türstocks. Und schließlich klafft der Spalt, das vom Bett aus nicht einsehbare, aber dafür umso präziser vorstellbare dunkle Dreieck weit genug auf, um das draußen Lauernde ins Zimmer eindringen zu lassen.
    Längst weiß die Träumende, wie es aussieht, was da zu ihr ans Bett, zu ihr auf die Matratze, unter ihre Decke und an ihren Busen will. Was kommt, ist keine Überraschung. Seit Jahren gönnt sich der Nachtmahr nicht die kleinste Variation der Erscheinung. Was kommt, will alles andere als neu sein. Und beide, der Entsetzer und die Entsetzte, sind sich auch ohne Zwiesprache einig, dass es so, wie es vonstattengeht, seine grauenhafte Korrektheit

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