Roman unserer Kindheit
reinen, fast kalkig weißen Decke. Die junge Frau Roser spart offensichtlich nicht mit Wäschestärke, der steife Bezug umfängtdas leichte Sommerbett wie ein Kuvert aus Pappe. Bis zuletzt ist der Kreislauf seiner Patientin erstaunlich stabil geblieben, nie hat sie über kalte Füße oder über Durchblutungsstörungen in den Fingern geklagt. Ernst Junghanns spürt den starken Drang, sich diese großen, wohlgeformten Krankenschwesternhände zum Abschied noch einmal anzuschauen, und widersteht zunächst diesem fast unanständigen, zumindest ungehörigen Verlangen. Schon hat er die Rechte aufs eigene Knie zurückgezogen. Doch dann täuscht er sich einfach vor, es ginge ihm bloß darum nachzuprüfen, ob dieses Nachthemd, wie er sich zu erinnern glaubt, insgesamt sieben Knöpfchen habe, und schlägt das Oberbett mit einem scharfen Ruck beiseite.
Die letzten Steine stürzen, und sogleich erkennen die Kinder beides: Licht wie Geruch, Geruch wie Licht. In keinem der anderen Aufgänge ist die Kelleratmosphäre so gemischt wie hier. Das gilt seit Anbeginn. Nur hier im dritten Aufgang standen die von Drahtgittern geschützten Deckenlampen bereits unter Strom, als die Bautischler in Akkordarbeit die Kellerabteile bauten, und zogen winzige, statisch aufgeladene, durch den Gang flirrende Sägemehlpartikel an ihr Glas. Diese feine Beschichtung gab und gibt dem Licht der schwachen Birnen ihren honiggelben Stich. Dreht man den Schalter, der sich rechts vor dem Abteil der Böhms befindet, durchsuppt ein mildes Funzelgelb den eigentümlichen Tiefenmief des dritten Aufgangs. Obwohl nun schon im dritten Jahr die Aromen des Heizöls wie ein exotisches Parfüm darüberliegen, dominiert hier unten weiterhin der ältere, der ursprüngliche Geruch. Der Vater sagt manchmal, wenn er die Mutter triezen will, sie alle würden eines Tages wegen dieses Geruchs zusammen mit Ziegelsteinen, Betonbrocken undBalken in die Luft fliegen und dann zu einem wüsten Haufen zusammenstürzen. Wie ein auf diese Münze einschnappender Automat erinnert ihn die Mutter unweigerlich daran, dass damals, als sie hochschwanger mit den Zwillingen gewesen sei, eigens wegen seines finsteren Geunkes ein Messwagen der Städtischen Gaswerke vorgefahren sei und man trotz umständlicher Prüfung nichts Beanstandenswertes habe finden können. Er aber habe am folgenden Sonntag auch noch den Wolfskopf-Vater, der durch seine Arbeit im Gaswerk angeblich sämtliche Duftvarianten des unsichtbaren Brennstoffs kenne, aus dem gelben Block herübergebeten. Einige Biere hätten sie beide am helllichten Mittag, im damals noch feuchten Keller auf zwei Kisten hockend, weggetrunken, ohne dass dem Wolfskopf-Vater auch nur der Anflug einer Geruchserleuchtung in seine hässlich dauerrote Nase gestiegen sei.
Die junge Frau Roser hat laut, nicht schrill, sondern mädchenhaft hell aufgeschrien. Und für die Dauer dieses Schreis erschien unserem alten Siedlungsdoktor das lichte Zimmer der Toten wie in das Wasser einer anderen Zeit getaucht. Jetzt, wo sie dicht neben ihn getreten ist, um sich, über das Bett gebeugt, die Überraschung aus größtmöglicher Nähe anzusehen, vermutet Ernst Junghanns zu Recht, dass sie ihn als erfahrenen Praktiker bewundert, dass sie ihm ganz besondere diagnostische Fähigkeiten zuspricht. Dabei hat er genauso wenig wie sie mit diesem horrenden Schwarz gerechnet. Nicht nur die Hände der Toten sind von Kohlendreck wie imprägniert, auch das Nachthemd ist bauchabwärts schwarz verschmutzt. Und als die Decke ganz über das Fußteil des Bettes fliegt, wird offenbar, die alte Frau muss bis an die Knöchel in den Kohlen gewesen sein.
Für dergleichen kann und darf es keine logisch rückwärtstapsende Erklärung geben. Die Schwiegertochter wendet sich deshalb entschieden der Zukunft zu und überlegt mit aller Denkkraft nur noch eine einzige Frage: ob sie die rissige Hornhaut dieser Sohlen nun absolut sauber schrubben muss oder ob es wohl reichen wird, die halbwegs gründlich gewaschenen Füße mit Strümpfen zu bedecken. Ernst Junghanns aber staunt über die Fingernägel. An beiden Händen sind Zeige- und Mittelfingernagel schräg abgebrochen, und unter die schiefen Kanten ist das Schwarz, sind Staub und feine Splitter so fest zwischen Haut und Horn gepresst, als hätte sich die alte Dame aus einem Flöz ins Weiß ihres Sterbebetts hinaufgewühlt.
Sommernacht
Der Vater hat sich an der Pforte vorbeigeschmuggelt. Er weiß, woran ihm Frauen, viel besser als die meisten
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