Roman unserer Kindheit
Kerle, sofort ansehen können, dass er getrunken hat. Seine Augen bekommen dann einen anderen, unschön wässrigen Glanz, und die Spannung, die seinen Mund sonst männlich entschlossen wirken lässt, löst sich so weitgehend in Weichheit auf, dass ihn die eigene Miene im Spiegel an irgendetwas erinnert, was er lieber gar nicht genauer begreifen mag. Die alte katholische Schwester, die im gläsernen Pförtnerkästchen ein Buch mit goldenem Schnitt studierte, hätte ihn allein schon wegen dieses entgleisten Mundes nicht zum Gas-Böhm durchgehen lassen, die Bieraromen in seinem Atem wären als zusätzliches Indiz gar nicht mehr nötig gewesen. Also hat er sich, so dicht es ging, an drei Malergesellen angeschlossen, die mit Blecheimern und Leitern ins Innere des Josephiniums tappten. Es klappte wie ein Bubenstreich. Die Nase auf einer der weißen Schultern, kam er, Terpentin und Leinöl schnüffelnd, den Blick ganz arbeitsstur und arbeitsmürrisch nach vorn gerichtet, ungehindert durch die Besucherschleuse.
Und weil die Gunst des Augenblicks es will, müssen die Handwerker auch noch in den zweiten Stock, wo die an Knie, Knöchel und Ellenbogen Operierten liegen. Oben probiert der Vater einfach eine Tür nach der anderen, und schon die dritte ist die richtige. Durch den nur fußbreit aufgezogenenSpalt sieht er ganz hinten im fünften, im letzten Bett der linken Seite, direkt am hohen, lichtdurchströmten Fenster, den Gas-Böhm gegen das hochgeklappte Kopfteil seines Bettes lehnen. Allerdings sitzt, womit der Vater nicht gerechnet hat, bereits Besuch am Bett des Nachbarn. Annabett Böhm ist auch von hinten, am Fall, am Glanz ihres nun nicht bloß schwarz, sondern gegen das Sonnenlicht am Scheitel kupferfarben aufleuchtenden Haars zu erkennen. Das Töchterchen, das hinter den Eltern aufs Fensterbrett geklettert ist, hätte es also gar nicht mehr gebraucht, um zu begreifen, dass aus dem vorgestellten Gespräch von Mann zu Mann nichts werden kann. Die Kleine guckt in seine Richtung. Sie hat ihn zweifellos entdeckt. Der Vater befürchtet, dass sie ihren Eltern gleich sagen wird, wie komisch unentschieden er in der Tür steht. Dann gäbe es kein Zurück mehr, er müsste, so, wie er ist, mit weichem Mund und schimmrigem Blick, vor die Nachbarin hin.
Das Mädchen bewegt die nackten Knie. Sie hat, erst jetzt fällt ihm das auf, die Sandalen und die Strümpfe oder Söckchen ausgezogen. Kurz denkt er, dass sie vom Fensterbrett aufs Linoleum springen will. Doch dann scheint sie ihm mit dem erneuten Auf- und Zuklappen ihrer dünnen Schenkel zu signalisieren, dass sie sein Herschauen duldet und ihn nicht an ihre Eltern verraten wird. Und jetzt geht ihr der Mund auf. Wie flugs die Zunge unglaublich weit – bis übers spitze Kinn – herausfährt! Das reicht. Das kann nur ihm gegolten haben. Aber es soll zu keinem weiteren Austausch von Vertraulichkeiten kommen; denn unvermutet, absolut eigenmächtig hat seine frisch verheilte Rechte die Tür mit einem übertriebenen Ruck, so heftig, dass ihm ihr Blatt gegen die Nase schlug, ins Schloss gezogen.
Die Schicke Sybille schlüpft als Letzte hinüber in den Roser-Keller. Nach kurzem Überlegen hat sie ihr Drachenkleid rundum noch ein wenig tiefer in den Schlüpfer geschoben, damit es auf keinen Fall voll Kohlenstaub wird, obwohl die Hände, die das besorgen müssen, nach all dem Kriechen auch alles andere als sauber sind. Das Kellerabteil ist gerade groß genug, dass sie zu siebt hineinpassen, ohne sich aneinanderdrängeln zu müssen. Aber wie hinter Gittern gefangen, auch wenn sie bloß aus Holz sind, fühlen sich die Kinder doch. Deshalb sind alle froh, als der Wolfskopf vorschlägt, es erneut mit dem Schlüssel des Toten zu versuchen. Auch hier, im Keller des grünen Blocks, schiebt sich die Hand des gebissenen Zwillings problemlos durch die Stäbe. Und wieder passt der Schlüssel. Bevor der hilfreiche Aufschließer den Arm zurückfädeln kann, wird er von seinen Freunden samt der aufschwingenden Tür hinaus- und zur Seite weggeschoben. Im Nu stehen alle bis auf ihn, dem es schmerzhaft den Ellenbogen verdreht hat, an der nächsten Tür, deren graulackiertes Holz den Kellergang vom lichten Treppenhaus scheidet.
Wie süß es ist, der Feigheit nachzugeben! Ich weiß es mindestens so gut, wie diese sechs tapferen Knaben, wie dieses noch ein Quäntchen mutigere Mädchen. Da draußen, hinter diesen Brettern, gerade mal so dick wie der Daumen eines Erwachsenen, liegt die Tagwelt, leuchtet der
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