Roman unserer Kindheit
sich, wie er es einmal im Kino, in einem Cowboy-Film gesehen hat, mit der Schulter gegen die schwarze Wand, aber er haut sich dabei nur gehörig den Kopf an und versaut sein Hemd. Der Ami-Michi schiebt ihn beiseite, klappt das Messer des Toten auf und beginnt die schwarze Wand mit der Spitze der Klinge zu traktieren. Die Kohle geht auch in kleinen Splittern ab, doch jeder kann sich vorstellen, wie weit so ein Brikett nach innen reicht, und ahnt zudem, dahinter wird noch eine zweite Reihe hochgestapelt sein, weil es alle Mieter, die sich noch nicht für einen grau- oder braunlackierten Heizöltank und damit gegen Staub und Dreck entschieden haben, genau so machen.
Nur zwei Geschosse über ihnen, gerade mal eine Hofbaumhöhe über den Kohle- und Ölvorräten, erklärt Ernst Junghanns der jungen Frau Roser, was am kalten Körper ihrer Schwiegermutter zu geschehen hat, wenn dieser den Rest des Tages und die kommende Nacht in der Wohnung bleiben soll. Eigentlich ist er in den letzten Jahren stets fürdie sofortige Abholung durch den städtischen Friedhofsdienst gewesen. Aber in diesem Fall ist es wohl besser, wenn die Leiche noch am Sterbeort verweilt. Der junge Roser, der als Textilvertreter mit seinem Kombi bis weit hinunter in den Südwesten reist, soll bei seiner Rückkehr das Gesicht der Mutter noch einmal auf einem der gewohnten Kissen, vor dem eichenfurnierten Kopfende ihres alten Bettes sehen dürfen. Den Totenschein hat Junghanns gleich nach seinem Eintreffen am Küchentisch ausgefüllt. Natürlich hat er darauf verzichtet, die Tote, wie es eigentlich vorgeschrieben ist, auf letzte auffällige Veränderungen zu untersuchen. Kein Hausarzt mit Verstand würde so etwas tun. Auch jetzt, wo er sich noch einmal bestätigen lässt, dass die Sterbende mindestens drei Tage nichts mehr gegessen hat und unmittelbar vor ihrem Tod noch einmal zur Toilette ging, verspürt er keinerlei Neigung, an die kugeligen Knöpfchen des hochgeschlossenen Nachthemds zu rühren. Allerdings fällt ihm, der Knopfleiste folgend und dabei von eins bis fünf nach unten zählend, plötzlich auf: Die Hände der Toten liegen nicht, wie zu erwarten, gefaltet auf der Decke. Stattdessen sind die Unterarme bis an die Ellenbogen unter dem glattgezogenen Weiß verborgen.
Unten packen sie zu. Im Keller geht die Rechte gleich der Linken rüstig an die Arbeit. Die Kinder hocken reglos da und hören durch die erste das Herabpoltern der zweiten Reihe. Der Ami-Michi klappt das Messer zu, legt ein Ohr an die schwarze Wand und sagt den anderen, was sie weniger deutlich als er, aber doch so laut vernehmen, dass es keinen Zweifel gibt: «Da drüben reißt jemand die Briketts herunter!» Es kracht und poltert, dass es eine Pracht ist. Erneut tut es mir gut, die sture Ordnung in Stücke gehen zu hören. Genau wiebeim ersten Mal sehe ich die dunklen Riegel liebend gern zerbrechen. Herr Roser hat sie zurückliegenden Monat, als die Preise für Koks, Anthrazit und Braunkohle wie jedes Jahr auf dem saisonalen Tiefstand waren, lose anliefern lassen und sie dann selbst, die Hände in alten Handschuhen, scheitelhoch gestapelt. Wenn Briketts aus einer solchen Höhe auf den Estrich knallen, bleiben sie selten heil. Es rumst erneut. Und wieder, ohne sich eine Pause zu gönnen, drücken gepflegte, bis zuletzt gegen die lästige Alterstrockenheit sorgfältig eingecremte Frauenfinger die Nägel hinter die harten Quader, um sie mit Schwung herabzuschleudern.
Die junge Frau Roser hatte wohl bemerkt, dass sich die Bettlägrige die Fingernägel nicht mehr wie all die Jahre kurz geschnitten, sondern stattdessen nur die Vorderkanten flach zurechtgefeilt hatte. Und ganz zuletzt, es ist gerade ein paar Tage her, hat sie die Todgeweihte sogar bei einer ihrer kuriosen gymnastischen Übungen überrascht, beim Dehnen der durch das viele Liegen verkürzten Schultermuskeln. Als kinderlose Schwiegertochter traute sie sich jedoch nicht, etwas dazu zu sagen. Die alte Frau Roser wusste, dass sie keine Bärenkräfte brauchen würde, um den pedantischen Stapel ihres Sohns von der Wand zu holen. Ein Muskelkrampf im Rücken oder in den Armen könnte indes ein echtes Handicap bedeuten, da es ja galt, Brikett auf Brikett so weit wie möglich in den Keller hineinzuschlenzen, so weit nach rechts und links, dass sich alles großflächig verteilen und nicht als wirrer Haufen die Mitte, die Stelle des Durchschlupfs, erneut versperren würde.
Ernst Junghanns greift an die Oberkante der übertrieben
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