Roman unserer Kindheit
niemanden fand, dem Taubstummen, an dem auch seine Söhne einen Narren gefressen haben, angeschlossen. Annabett Böhm, die zu konsequenter Strenge neigt, ist ihr offenbar mit dem erstbesten Fahrrad, mit dem Rad seiner Frau, hinterhergesaust, um ein Exempel zu statuieren.
Jetzt steht die schwarzgelockte Nachbarin mit offenem Mund, mit von der Fahrt erhitzten Wangen da und kriegt, was gar nicht zu ihr passt, kein Wort heraus. Der Vater überlegt, ob er ihr das Rad über die Kette heben soll, sagt dann nur, sie solle nicht allzu böse auf ihre Tochter sein. Die quatsche dahinten an der Mauer zum Bärenkeller dem Taubstummen, der kein übler Kerl sei, ein Loch in den mageren Bauch. Die anderen, Sybille und die Buben, seien irgendwo in der Nähe. Er habe den Kinderwagen in den Rosenranken stehen sehen. Annabett Böhm spürt mit dem ersten Satz des Vaters, wie recht er hat. Ihre Kleine ist außer Gefahr. Aber die Unruhe lässt nicht nach, sondern stürzt ihr bloß aus dem Kopf über den Nacken und die Schultern tiefer in den Leib hinunter. Kurz denkt sie, ihre brave Sybille sei bedroht, und dann erfasst sie gar die Vorstellung, sie habe noch eine dritte Tochter oder zumindest eine Nichte, die eben jetzt vor irgendetwas behütet werden müsse.
Es stimmt! Ich puste in ihre Angst, wie in ein Feuer, das nur glimmt und glost, hoffe erneut, die Flämmchen weiblicher Einfühlung loderten auf, erhellten mehr von mir und dem, was mir ins Haus steht. Doch schon zieht es die Schöngelockte in die andere Richtung. Annabett tastet, den Blick im Gesicht des Nachbarn, blindlings nach dessen Hand, kriegt zunächst seine Hose, dann seine Rechte – sie spürt den Wulst der frisch verheilten Narbe – zwischen die zitternden Finger,zwischen die mokkabraun lackierten Nägel. Sie schaut sich um. Hier unten war sie lang nicht mehr. Wenn sie und ihr kleiner Gatte am Wochenende, was selten genug geschieht, mit den Mädchen eine Runde spazieren gehen, hat sie es tunlichst vermieden, den Schrebergärten und jener einen verfänglichen, jener aus amerikanischem Material zusammengeschraubten Laube allzu nah zu kommen. Sie sieht, wie hoch und dicht das Gebüsch in den Jahren ihrer Ehe geworden ist. Hier muss es wunderbar zugewachsene Winkel, hier muss es in den Hecken natürliche Verstecke geben, wo man vor den neugierigsten Kindern, selbst vor den hellsichtigen Nachbarsbuben und vor dem Schnüffelnäschen der eigenen Tochter ein heftiges Weilchen schattig verborgen wäre.
Da bricht dort, wo die Zweige eines Holunders bis auf den Boden hängen, Sybilles kleine Schwester durchs Gebüsch. Sie rennt zur Mutter hin, sie plärrt, wie sie als Baby geplärrt hat, sie wirft sich gegen Rock und Gürtel. Der Vater übernimmt den Fahrradlenker. Annabett Böhm fasst ihrem Töchterchen mit beiden Händen in den verschwitzten Schopf und spürt, wie heiß nicht nur die Stirn, wie heiß der ganze Kopf schon ist. Sie und die Kleine sind damit gerettet. Sybille, die tüchtige Sybille, sorgt sicher für sich selbst. Und ihre Nichte, ihr eben noch aus blanker Angst geborenes Nichtchen, löst sich wie ein vollends verworrener Gedanke aus ihren schwarzen Locken, um andernorts, im schmalen Kinderzimmer oder auf der langen hölzernen Kegelbahn, seine letzte, meine allerletzte Chance zu wahren.
Sommernacht
Die Kinder, die sieben Freunde, sind ins Kunstlicht der Kegelbahn getreten. Die Wendeltreppe endet an einer Rinne, so schmal, dass sie auf ihrem glattpolierten Holz hintereinander nach oben kriechen mussten. Dieses letzte Wegstück war kurz, aber nicht leicht. Der Ältere Bruder hatte seine Krücken abgegeben. Der Schniefer, der als ihr bester Kletterer die Spitze übernahm, schob die klappernden Stangen geschickt vor sich her. Und als er oben war, am Anfang der aus schmalen Brettchen kunstvoll gefügten Rutsche, die, wie es die Technik einer derartigen Anlage verlangt, als Trichter beginnt und schon an ihrem scheinbar waagerechten Anfang ganz leicht geneigt ist, drehte er sich um und streckte ihrem gehandicapten Führer eines der Gestelle entgegen, um ihn in den Stand zu ziehen.
Das Licht ist schlimm. Die Lampen, die sie von oben und von vorn bestrahlen, sind derart stark, dass sie nicht direkt in ihre weißen Leuchtkreise schauen können. Allein Sybille, unsere Schicke Sybille, nutzt die ungeheure Helligkeit sogleich auf ihre Weise: Sie zieht ihr Kleid rundum aus dem Schlüpfer, hält den Saum in die Höhe, dreht den Kopf und entdeckt zu ihrer Freude nirgends einen
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