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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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Fleck. Ihr Drachenkleid ist völlig rein geblieben. In dieser Überhelle bliebe nicht der geringste Schmierer, nicht das klitzekleinste Klümpchen Kohlendreck verborgen. Der Schniefer legt die Hände an die Stirn. Er presst die Zeigefinger gegen die Augenbrauen, erbiegt die Handteller wie Scheuklappen herunter und guckt durch diese halbe Röhre ans andere Ende, an das blendend weiße Ende des Gebäudes, in das sie aufgestiegen sind. Weil er laut ausspricht, was er sieht, tun es ihm alle gleich. Der Ältere Bruder stemmt die Brust gegen die linke Krücke, mit der er eben heraufgezogen worden ist, um wie die anderen beide Hände zum Beschatten der Augen frei zu haben. Er starrt gegen das Licht ins Licht hinein, und als Anführer und Wortführer fällt es nun ihm zu, das Gesehene zu deuten.
    Das ist kein echter Bär! Jeder der Freunde hat es auf den ersten Blick begriffen. Das weiße Fell sitzt dieser Gestalt nicht so, wie es die Natur bei jedem ihrer Exemplare fehlerlos zustande kriegt, auf Rumpf und Gliedern. Was immer in diesen Pelz geschlüpft ist, es hat die Größe, um ihn, aufrecht stehend, von den Fersen bis in die Schultern wie einen Overall zu strecken, doch auf den Hüften wirft die Hülle komisch schräge Falten, und auch unter den Achseln ist sie viel zu locker, um dort mit Muskeln und Fett einen leiblichen Zusammenhang zu bilden. Vier prächtige Reißzähne ragen aus dem halboffenen Maul, aber dessen Kiefer können weder weiter aufgerissen noch zu einem Biss geschlossen werden. Der Bär ist ein Betrug! Das hilft jedoch nicht einmal denen, die noch keinen Blick ins Nudelbuch geworfen haben. Der Wolfskopf, der Schniefer und Sybille, die das Leben, die Nöte, die Freuden und die Abenteuer der Bärentöterhorde nur vom Hörensagen kennen, kleben jetzt, im grellen Licht der Kegelbahn, mit ihrem Denken an einem Plastikbären fest, an jenem Wundertütenbär, den der Ältere Bruder in hohem Bogen zu ihnen auf das Dach des Schrebergartenhäuschens hinaufgeworfen hat. Bereits die Übereinstimmung der Farben, das Weiß des Fells und das Blutrot der Zunge,lässt sie Arges ahnen. Der riesige Kerl im falschen Pelz, sein stummes Fuchteln mit den krallenbewehrten Tatzen, das ganze Arrangement da vorn, am anderen Ende der polierten Holzbahn, die schwarze Kugel und der weiße Strich, alles erinnert sie an jene Gruselwitze, die die Zwillinge erst abends, wenn es dämmert, oder an dunklen Orten, im Keller oder in einem aus alten Decken gebauten Zelt, erzählen und deren Schluss, so man ihn nicht restlos begreift, anstatt die übliche Lacherlösung zu spenden, nur ein blödes, ein richtig übles Unbehagen in Hals und Kopf und Magen hinterlässt.
    Unseren Zwillingen, den Nudelpunkte-Sammlern, die alles Bild für Bild und Wort für Wort gründlicher noch als unser großer Bruder und der Ami-Michi in sich aufgesogen haben, spritzen die Tränen aus den Augen. Sie zweifeln nicht daran, dass eine mörderisch strenge Strafe, dass nun die längst verdiente Sühne fällig ist. Jetzt sind sie alle dran. Ihr Bruder, ihre Freunde und sie beide sind also auserkoren, die Untat der vorzeitlichen Jäger abzubüßen. Denn es ist so: Die Bärin hatte sich zur Winterruhe erneut in die Höhle mit dem türähnlichen Eingang zurückgezogen. Sie hatte die Menschenhorde, die am Ende des Sommers aus einem Nachbartal zugewandert war, sehr wohl bemerkt und war den Fellbehängten bis in die letzten spätherbstlich kühlen Tage in weiten Bögen ausgewichen. Nur einmal waren sie sich nah gekommen. Die Bärin hatte eine hohle Buche mit den Tatzen aufgerissen, um an den Honig der Bienen zu gelangen, die darin zu Hause waren. Die Jäger hörten das Krachen des Holzes und das wütende Schnaufen des vielfach in Schnauze und Lefzen gestochenen Tiers. Als die Räuberin abzog, kamen sie aus dem Unterholz und sammelten die verstreuten Wabenstücke, alles, was vom Sommerfleiß derImmen übrig war, um es den Frauen und Kindern mitzubringen.
    Nicht erst, wenn ihre Jungen durch den Frühling purzeln, sondern bereits mit dem ersten Tag der Trächtigkeit meidet die Bärin, die weder Wolf noch Luchs, weder den klugen Dachs noch den tückischen Vielfraß scheut, den einzigen auf zwei Beinen laufenden Säuger. Jedoch reicht ihre Fähigkeit zur instinktiven Vorempfindung, die von den Jägern bemerkt und immer wieder zur sprichwörtlichen Bärenschläue umgedeutet wird, nicht weit genug, um sich die vag gefühlten Absichten der Menschen als kommende Taten zu imaginieren. Der

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