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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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erreichten, gar nicht mehr dazu, den Kopf in den Nacken zu legen und sich den Gestirnen hinzugeben. Er muss, im Gegenteil, hochkonzentriert nach unten, auf den Boden glotzen, denn ihre Führerin ist selbst für eine Maus recht klein. Der samtig graue, kurzschwänzige Leib raschelt in Schlangenlinien durch die Blätter. Obwohl es in diesem Monat viermal Regen gab, haben die Kastanien schon einen Teil ihrer Wedel auf das erst halb verrottete Laub des Vorjahres geworfen. Sputnik, die der Fehlharmoniker eng ans Knie zieht, damit sie dem Mäuschen nicht zu nahe kommt, hält den schweren Kopf gesenkt, folgt mit der Nase jeder Windung des Mäusewegs und weiß als Einzige, dass eine Spitzmaus, auch ein Weibchen, viel strenger, männlicher duftet, als die mit ihr gestaltverwandten Nager, als Feld- oder Wühlmaus es je könnten.
    Der Mann ohne Gesicht erfasst, wohin das spitzzahnige Räuberchen sie führt. Das wuchtige Wirtshaus, das er als möglichen Ort der Untat im Auge hatte, liegt kalt und dunkel hinter ihnen. Angeblich geht es unter seinen Dielen, die auf gewaltigen, uralten Eichenbalken ruhen, in mehrere Ebenen Bierkeller hinunter. Zudem soll ein Netz von Gängen in die westliche Anhöhe gewühlt sein, ein Labyrinth, mit dem bislang kein Zweck verbunden werden konnte. Falls es sich, wie ein Heimatkundler erst neulich in der Zeitung spekulierte, um Fluchtwege handeln sollte, bleibt unklar, wovor geflohen wurde und wohin sich dieser Eskapismus wenden wollte, denn Ausgänge, zurück ans Licht der Oberwelt, sind nie gefunden worden. Dem Mann ohne Gesicht ist es nur recht, dass alles Weitere, dass der Schlusskampf nicht dort unten vonstattengehen wird. Das Gebäude, zu dem sie der Spitzmaus folgen, ist hell erleuchtet. Fast könnte man es wegen der hohen Bogenfenster für eine Art Kapelle halten. Aber wer sich mit Gasthäusern und ihren Nebenbauten auskennt, wird aus seinen Proportionen, aus seiner langgestreckten Flachheit schließen, wozu es wirklich diente. Die Maus macht halt. Sie stellt sich auf die Hinterbeinchen. Der Mann ohne Gesicht beugt sich zu ihr hinunter. Offenbar will das Tierchen etwas sagen, bevor es sich aus seinem Dienst entlässt. Jetzt ist der einstige Panzerfahrer, der Ladeschütze, froh um seine in der weißen Glut geeichten Trommelfelle. Denn weil es aus dem einzigen Geschoss des tonnenförmig überdachten Bauwerks grollt, als brächten schwere, durch und durch massive Kugeln unentwegt eine hölzerne Bahn zum Dröhnen, braucht es nun ein besonders unterscheidungsfähiges Gehör, um den traditionellen Jägergruß, um das ermutigende «Weibeidmabannsheibeil!» der Spitzmaus zu verstehen.
    Ich mag nicht schuld dran sein, dass unser Vater und seine schöne Nachbarin an der schweren Kette, am Schild, auf dem in rostfleckigen Großbuchstaben Eltern für ihre Kinder haften, aufeinanderstoßen. Annabett Böhm will eben das Rad über die in der Wegmitte tief durchhängenden Kettenglieder heben, als sie die Schritte näher kommen hört. Das tunnelförmig über den Weg gewachsene Gebüsch scheint das Knirschen der Steinchen wie ein Schallrohr zu verstärken, und schon bevor ihr der Nachbar vor Augen kommt, spürt sie, dass dieses kraftvoll weite Ausschreiten zu einem Mann nach ihrem Geschmack gehören muss. Vorhin, als sie an der Schrebergartenkolonie entlangfuhr, erfüllte sie trotz aller Sorge noch einmal mit Stolz, seit der Versehrung ihres Gatten immer nur bis Oberhausen und kein einziges Mal weiter in die Stadt, weiter in die Versuchung hineingefahren zu sein. Doch jetzt kommt ihr leibhaftig, als wohl längst fällige Bestrafung dieser eitlen Überhebung, ihr letzter fraulicher Fehlgriff, ihre Operetten- und Likörentgleisung, aus dem hohlen Weg entgegen.
    Der Vater wundert sich zum zweiten Mal. Vorhin hat er, schon von der Bärenkellerstraße aus, die Kleine der Böhms gesehen. Sie stand mitten auf einer alten Couch, rechts und links von ihr saßen der Taubstumme aus dem türkisen Block und einer der Huhlenhäusler-Buben. Die Kleine schien die beiden mit ihrem Plappern zum Schweigen gebracht zu haben, zumindest guckten sie, zigarettenrauchend, Löcher in die Luft, während das Mädchen den Mund nicht zubekam und noch dazu am Fuchteln war, als könnte sie, was sie erzählen wollte, mit Worten allein nicht deutlich machen. Wahrscheinlich war sie ihrer Mutter schon an der Bushaltestelle entwischt und Richtung Spielplatz abgehauen, um ihregroße Schwester und deren Freunde zu suchen, hatte sich dann, als sie

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