Roman unserer Kindheit
flach auf die Hand, als gelte es, sie einzeln wie eine andersartige Ware, wie ein Lebensmittel, abzuwiegen. Dazu kommen noch Kaugummis und gleich drei Päckchen der für eine Süßigkeit recht teuren, aber bei Groß und Klein immer beliebter werdenden Gummibärchen. Zuletzt betastet der Fremde zu Geistmanns Überraschung die Wundertüten, diesenkrecht in einem Kästchen auf der Theke stehen. Er macht es mit seinen Erwachsenenfingern kein bisschen anders als die Kinder, die durch das feste Papier hindurch erspüren wollen, ob sich außer dem Puffreis, den Ringen, Kettchen und Comic-Heftchen auch ein neuer Cowboy oder Indianer drin befindet. Das heftigste Verlangen gilt in diesem Sommer allerdings etwas anderem. Noch lieber als Cowboy, Ritter, Indianer und Soldat hätten die kleinen Wundertütenkäufer zurzeit den ungeheuren weißen Bären, der auf der Rückseite der aktuellen Tüten die Krallen aus den Tatzen spreizt, die Schnauze zu bösen Falten rafft und dicke Tropfen Geifer von den Fängen tropfen lässt. Aber bis jetzt hat noch kein Kind der Neuen Siedlung – wer wüsste dies besser als ich! – den bleichen Totbeißer aus Plastik im Grund der aufgerissenen Tüte liegen sehen.
Die Gummibärchen sind für Sybille, aber die Schicke Sybille kann nicht kommen. Waschmann hat Schuld. Die Mutter der Brüder hat den Briefträger, der Werner Wischmann heißt, in Waschmann umgetauft, weil er noch schlimmer als ein Waschweib sei, er wolle wirklich restlos alles wissen und müsse das Herausgefundene sofort weitertratschen. Wischmann-Waschmann hat Sybille, als er die Treppe hochstieg, um Frau Krüger und ihrer kranken Schwester die Renten auszuzahlen, in die Wohnung des neuen Mieters schlüpfen sehen. Der Mann ohne Gesicht ahnt nicht, dass der teigig blasse Postler, dem als Zeichen seiner Quatschsucht immer, mal rechts, mal links, ein Spuckebläschen im Mundwinkel schäumt, Sybilles Besuch im hinteren Block sogleich an Frau Böhm verraten hat. Als Sybille am Nachmittag nicht wie versprochen wiederkommt, denkt er sich nur, das Mädchen nehme es wie viele Kinder mit dem Nacheinander der Ferientagenicht so genau und werde schon morgen oder übermorgen wieder bei ihm klingeln.
Kaum dass es dunkelt, macht er sich noch einmal auf die Socken. Er steuert den Spielplatz an. Der Weg kommt ihm kürzer vor als bei den Gängen im prallen Sonnenlicht, der Drosselgrund ist von der Dämmerung wie gestaucht. Dafür erscheint der Wendekreis, in dem er endet, merkwürdig aufgezogen, und die gewaltige alte Buche streckt ihren längsten Arm weit über diese unsinnig große Asphaltscheibe hinaus. Hier, vis-à-vis vom weißen Block, der auch im letzten Schwundlicht nicht ergrauen mag, zweigt links der Kiesweg in die Grünanlage ab, die nicht nur die Kinder Spielplatz nennen. Die Steinchen knirschen extra laut, weil nirgends eine Menschenseele, weil nicht einmal eine zur Jagd ausziehende Katze oder eine zu den Abfallkörben huschende Ratte zu entdecken ist. Sogar die Amselmännchen, deren aggressives Singen die Neue Siedlung in über hundert akustische Reviere gliedert, scheinen sich heute, ganz gegen ihre Art, ins Stummsein wegzuducken.
Die Stille veredelt das Gelände. Die großen Wiesen, die hübschen Ensembles aus Buschwerk und schon recht ansehnlichen Bäumen gaukeln ihrem späten Besucher leichthin vor, ein richtiger Park wäre seiner zentralen Zwangslage entwischt und hierher an den westlichen Stadtrand abgewandert. Das von den Buben der Siedlung zerbolzte Gras lässt sich, im Dämmer samtgrau geworden, mühelos als gepflegte Rasenfläche missverstehen. Sogar im Brummen der Falter schwingt ein Anklang von Distinktion, fast von Noblesse. Schon bald, auf den Monat genau fünfundvierzig Sommer später, wird ein zukünftiger Wissensmann, ein Biostatistiker, mit Hilfe der dann gang und gäbe gewordenen elektronischenRechenautomaten auf der Grundlage alter Datenbestände bestimmen, zu welch mirakulöser Größe die Zahl der Nachtschmetterlinge in diesem Sommer angewachsen war. Im farbig gewordenen Fernsehen, in einer Sendung, die sich großspurig Welt der Wunder nennt, wird er behaupten, es habe sich um die mit Riesenabstand größte Population des ganzen verflossenen Säkulums gehandelt. Allerdings hätten bereits im Folgejahr alle an diesem Rekord beteiligten Arten ihre triumphale Überzahl mit einem ebenso extremen Rückgang, verursacht von einer bakteriellen Seuche, gründlich abgebüßt.
Ein kolibrischwerer Schwärmer prallt dem falschen
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