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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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Spaziergänger, unserem recht scheinheilig dahinschlendernden Späher, gegen den Mull, surrt mit erhöhter Flügelschlagfrequenz an seinem linken Ohr vorbei. Und dann hört unser Mann ohne Gesicht den Neger singen. Schneller als er dergleichen absichtlich erdenken könnte, pinselt ihm seine im Überhandnehmen der Nacht knallwach gewordene Phantasie ein Kofferradio hinter die nächsten Büsche. Es soll dort hinten stehen, auf einer seinem Blick bloß noch ein Dutzend Schritte verborgen bleibenden Bank soll sich ein schicker, verchromter Henkel über dem Buckel eines perlmuttfarbenen Apparates krümmen. Daneben, die Hüfte am kostbaren Gerät, hockt ein sogar im Finstern kränklich käsiger Bengel, das Glühpünktchen der Zigarette vor der Hand. Gemeinsam mit seiner minderjährigen Freundin, um die er nun den Arm legt, duckt sich der Halbstarke unter einen üppig wuchernden Holunder, vielleicht sogar unter die Fruchtdolden eines Flieders. Die neuartig Jungen, diese Brut der ersten tausend Nachkriegsnächte, erscheinen dem Mann ohne Gesicht nach seinen Jahren im Wald exotisch fremd, es schaudert ihn regelrechtvor ihrem anders gedüngten, vor ihrem andersfarbig aufblühenden Herangewachsen-Sein. Gleich wird er den jungen Leuten, um den Bogen dieses Unbehagens abzuspannen, irgendetwas harmlos Onkelhaftes entgegenrufen, zum Beispiel, dass die Batterien ihres schönen Kofferradios, wenn sie den Neger so laut singen ließen, nicht mehr lange reichen dürften.
    Zehn Schritte weiter hat sich das Radio als ein Gedankentrug erwiesen, und auch die Halbstarken waren Schimären. Der Schwarze hingegen, der lauthals singende Neger ist aus Fleisch und Blut. Er liegt im großen Buddelkasten, den Kopf auf einem Haufen Sand, der heute Nachmittag noch eine Burg für eine wildgemischte Truppe aus Gummi-Rittern, Gummi-Cowboys, Gummi-Indianern und Gummi-Soldaten gewesen ist. Der Sänger aber lässt sein Lied mitten im Vers krepieren, weil er die Schritte auf dem Kies näher kommen hört. Schnell greift er neben sich. Die Silhouette einer eckigen Flasche steht ein Weilchen über dem Oval seines Gesichts. Der Sand ist warm und weich. Erst vor wenigen Tagen ist die Kiste frisch aufgeschüttet worden. Aber den erfahrenen Buddlern, den vier- und fünfjährigen Knaben, ist der neue Sand zu haltlos körnig, sie stechen ihre Blechschippen tief ein, um an die besser klebende ältere Schicht heranzukommen. Wenn sie eine Burg mit glattgeklopften Mauern und ebenen Böden bauen wollen, mischen sie den sauberen hellen Neusand mit dem dunklen alten, den sie Pappsand nennen.
    In hohem Bogen kommt die Flasche angeflogen. Eulen- oder Käuzchenaugen hätte es gebraucht, um ihren Schemen bereits beim Schwungholen des Arms, beim Abwurf aus dem dunklen Sechseck, zu erkennen, und weniger als lidschlagkurzwar die Bahn der Flasche am Nachthimmel zu sehen. Der Mann ohne Gesicht ist dennoch leichthin ausgewichen. Der Flaschenboden hat bloß das linke seiner im Feuer modellierten, seiner im Feuer fledermausscharf geeichten Ohren gestreift. Er setzt sich an den Rand der breiten rohen Planke, auf der die kleinen Mädchen untertags mit ihren Förmchen Kuchenbacken spielen. Der Neger hat sich aufgerichtet. Die superblanken, ungewöhnlich großen Knöpfe seines Hemds gucken wie Augen in die Nacht. Er lallt, das Sprechen fällt ihm ungleich schwerer als das Singen. Sein Gegenüber nickt, hört sich das alkoholerweichte Amerikanisch an. Zwischen den Knien des Fremden ragen das behelmte Haupt eines Ritters und die Spitze des Speers, den die Figur drohend oder triumphierend emporreckt, aus dem festgetretenen Sand. Der Schwarze verstummt, horcht nur noch brav, ob Antwort kommt. Gleich wird der Mann ohne Gesicht seine Geduld belohnen. Dann dürfen sich die verschwiegenen Amseln dieses Abends und selbst der Gummi-Ritter, der eigentlich ein Plastik-Ritter ist, darüber freuen, wie klar das Englisch der Erwiderung in der Nachtluft klingt.
     
    Papperlapapp! Ich kann es partout nicht leiden, wenn Männer so übertrieben nachtschwer miteinander quatschen. Aber weil mein Gehör geschmeidiger ist als jeder neumodische Kunststoff, weil ich sogar weicher und elastischer als der gute alte Kautschuk bin, bleibt mir keine andere Wahl, als mich den Zungenschlägen meines Sommers anzuverwandeln. Die Schicke Sybille hat am Ende des vergangenen Schuljahrs, während der letzten beiden von ihrer Lehrerin nicht mehr allzu streng gestalteten Wochen, eine Geheimsprache erlernt. Nicht jede ihrer

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