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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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vorliegende Werk extra für sie reserviert, weil er nach seiner, natürlich unmaßgeblichen Vorlektüre zu vermuten wage, dass ihr das Geschehen zwischen den Gestalten, Genaueres sei nicht verraten, zusagen müsste. Der Ältere Bruder ahnt inzwischen, dem Vater gefiele es überhaupt nicht zu sehen, wie die Schmöker, mit denen seine Frau die Nacht zum Tag macht, hier angepriesen werden.
    Horst Geistmann kennt den Exzess bedingungslosen Hingegebenseins. Am kurzen Wochenende, in der Nacht von Samstag auf Sonntag, erfährt er ihn regelmäßig selbst an Leib und Seele, und kehrt er von dieser Streckbank zurück zur Kundschaft, versteht er sich darauf, die Freuden der Tortur unmissverständlich und zugleich diskret, also verführerisch, in kunstvoll vagen Sätzen aufleuchten zu lassen. Dabei spielt keine Rolle, dass ihn Liebes-, Schicksals- und Arztgeschichten in erster Linie theoretisch interessieren. Was er in eigener Lesenacht am liebsten über dem klassischen Wildwest-Roman erlebt, lässt sich, wenn man es zweimal um die geschlechtliche Kante knickt, auch auf die Genres übertragen, denen seine Kundinnen erliegen. Der Held, gerade der mit heißgeschossenem Colt, ist ein empfängliches Geschöpf, und wenn er sich zuletzt im schnöden Staub vor dem Saloon für eine höhere Sache opfert, scheint beides, das Töten und dasTotgeschossenwerden, im Zauber des Allgemeinen, in der Magie des Menschlichen geborgen und aufgehoben.
    Anders, schwieriger und komplizierter, verhält es sich leider mit der Musik. Der Türklang ist ausgeschwungen. Die Glöckchen, die sogar die Feinhörigen unter seinen Kunden nach kurzer Verstörung energisch ignorieren, stammen von einer echten Schamanentrommel, rundum waren sie an den Rahmen des einfachen, tamburinähnlichen Instruments geknüpft, und so, gemeinsam mit Holzrahmen und abgeschabtem Ziegenfell, haben es die dünnen Messingtütchen und ihre Kupferklöppel vom Tellerrand Europas bis in unsere Stadt geschafft. Geistmann ist vor Jahr und Tag mit den Gebirgsjägern der Wehrmacht bis in den Kaukasus gezogen. Der blutjunge Soldat, der nicht unvirtuose Gitarren- und Mandolinenspieler und frischgebackene Ehemann brachte die Trommel bei einem Heimaturlaub als Souvenir nach Hause. Dort lag sie für den Rest des Krieges und auch noch eine kleine Friedensewigkeit bei anderem staubfangenden Kram auf dem Schlafzimmerschrank herum. Erst als sie genug angespart hatten, um den Laden in der Neuen Siedlung zu eröffnen, kam Hildegard Geistmann ein Wiederauferstehungseinfall; sie schnitt die Glöcklein mit der Haushaltsschere ab, schmiss Holzrahmen und Ziegenfell kurzerhand in die Tonne und sagte ihrem Gatten, wie das Geläute über der Ladentür zu hängen habe. Seitdem vermuten beide, dass die einstige Kriegsbeute ihr klandestines Quäntchen zum Erfolg des Geschäfts beigesteuert hat.
    Ein Mann mit einem flachgespannten weißen Viereck zwischen Augen und Kinn ist für Horst Geistmann   – Mull hin und Nase her – ein Geschlechtsgenosse, dem man Zigaretten verkaufen kann. Der Fremde wäre nicht der erstederartig Versehrte, der sich im Laufe des Tages einen gelben Fleck in den Verbandsmull saugt. Mit oder ohne Filter? Der Absatz von Filterzigaretten nimmt, seit die Geistmanns ihr Geschäft eröffnet haben, kontinuierlich zu, während die Nachfrage nach Filterlosen inzwischen langsam, aber wohl unaufhaltsam, ähnlich dem Buchverleih, zurückzugehen begonnen hat. Hildegard Geistmann meint, der Siegeszug der Glimmstängel mit Filter komme vor allem von der kleinen, aber spürbaren Spanne, die sie teurer seien. Die Ungefilterten an sich, nicht bloß die Tabakkrümel, die sie auf den Lippen hinterließen, schmeckten mittlerweile nahezu jeder Frau und allmählich auch den meisten Männern nach allzu billiger Versagung. Keiner wolle mitten im Gesicht zur Schau stellen und zugleich am selben Ort intim erfahren, dass er sich das Bessere, die lüstern elastischen, die mit holz- oder korkfarbenem Papier kaschierten, jedoch an ihrem Schnittkreis medizinisch weißen Mundstücke nicht leisten könne.
    Von seinem neuen, offensichtlich klangsensiblen, offenbar nasenlosen Kunden hat Horst Geistmann unwillkürlich angenommen, er rauche filterlos, vielleicht sogar Zigarren, zumindest Stumpen. Aber der Mann will nur die Zeitung. Er nimmt das bessere der städtischen Blätter und nach kurzem Zögern auch noch das eine kleine Münze billigere Revolverblatt. Beide Zeitungen legt er sich nacheinander ein auffälliges Weilchen

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