Roman unserer Kindheit
zu massiger Schädel aus dessen schmalem Rumpf. Unser großer Bruder müsste über den Anblick lachen, wenn ihm nicht neue Schmerzen schwanen würden.
«Brenn’s weg! Brenn’s lieber weg, bevor es weiterwuchert …», murmelt der Apotheker, zuckt dazu mit den Achseln, der Kopf von Professor Felsenbrecher hopst zweimal hoch, dann wippen die beiden, als hätten sie es eingeübt, synchron in den Stand, treten zwei Schritte auseinander, treten wieder zusammen und schütteln sich zum Abschied ausgiebig die Hände. Der Ältere Bruder hat gesehen, wie die Fingerchen des Apothekers vom Faustfleisch des Professors verschlungen wurden. Verzweifelt hofft er, die beiden würden nun so zusammenkleben, bräuchten daraufhin selber fachkundigen Beistand, müssten erst einmal weg von hier, mit dem Krankenwagen zu jenen namenlosen Affenärzten in die Universität, und würden dort langwierig mit falschen Salben fehlbehandelt, würden richtig vermurkst und hingen bis auf weiteres untrennbar an ihren tusüchtigen rechten Pfoten zusammen. Er jedoch und sein Fuß kämen für heute mit einem frischen Verband, behutsam angelegt von keiner anderen als seiner lieben Schwester Innocentia, davon. Aber das Wünschen hilft nicht. Professor Felsenbrecher macht wie immer das, wovon er meint, dass er es machen muss.
Wieder zu Hause, soll sich unser großer Bruder von dem, was er gerochen, gehört und leider Gottes auch empfunden hat, von dem, was ihm noch immer durch alle Schichten desVerbands in die Nase steigt, in Ruhe erholen. Die Mutter hat ihn am hellen Nachmittag ins Bett verbannt. In Wahrheit will sie ein Weilchen mit dem Radio allein sein, weil sie aus allem, sogar aus dem Kaffeeduft, die verschmorte wilde Haut, das elektrisch weggebrannte, weil unerwünschte Gewebe ihres Erstgeborenen herauszuriechen glaubt. Der Ältere Bruder hört sie drüben an der Spüle klappern. Das Kinderzimmerfenster steht halb offen. In allen fünf Blöcken reichen die Fenster, die aus der Schmalseite der Häuser nach Südosten schauen, bis auf den Holzfußboden. Ein hüfthohes Gitter soll verhindern, dass man aus diesen Fenstertüren, die der Vater spöttisch Sparbalkone nennt, nach draußen stürzt. Hier im Parterre fiele man allerdings nicht tief. Außerdem ist die Wiese, beschattet von den Rotdornbäumchen, dick vermoost. Der Schniefer stellt sich, wenn kein Erwachsener in der Nähe ist, oben auf das Gitter, wackelt zum Spaß herum, rudert mit den Armen, als wollte er sich noch rücklings nach drinnen retten, um sich dann mit einer extra grässlichen Angstgrimasse nach vorne fallen zu lassen. Der Schniefer, der auch ein großer Kletterer ist, hat sich noch bei keinem dieser Sprünge den Fuß verstaucht. Der umgekehrte Weg, der Weg hinauf, der Weg nach drinnen ist auch für die, die keine Kletterkünstler sind, recht leicht: Zwischen dem Fenstersims und der Wiese ist ein Kellerfenster, auf dessen untere Kante man den Fuß stellen kann, ehe man sich an den Gitterstäben hochzieht.
Jetzt knackt ihr Eisen, und das Blech des Simses quakt, wie es immer quakt, sobald das Gewicht eines Kinderkörpers es verbiegt. Der Ältere Bruder freut sich so sehr, dass er sein Herz spürt und die Luft anhält, damit das Fühlen nicht gleich wieder schwindet. Vorhin hat er gehört, wieder Wolfskopf von der Mutter an der Wohnungstür abgewimmelt wurde. Mit einem richtigen Denkkrampf ist ihm seitdem gelungen, nicht auf das zu hoffen, was nun gleich glücklich eingetretene Wirklichkeit sein soll. Dass man sich ein Geschehen als rettungslos unwahrscheinlich, als schier unmöglich denken muss, wenn man es durch den Geist herbeiziehen will, hat er selber herausgefunden. Der Wolfskopf ist auf die ihm eigene Weise schlau gewesen, hat nicht den kurzen Weg genommen, ist nicht am Küchenfenster vorbeimarschiert, wo ihn die Mutter hätte sehen können, sondern brav um die andere Schmalseite des Blocks herumgewandert. Der Vorhang bauscht sich. Der Freund schlüpft herein und kniet sich zu ihm ans Kopfende des Bettes. Drüben in der Küche kommt ein Lied, das die Mutter mag, und sie dreht lauter. Trotzdem zieht der Wolfskopf eine Decke aus dem Doppelstockbett der Zwillinge herüber. Sie stecken die Köpfe drunter, und vier Hände zupfen sie so zurecht, dass kein Licht herein- und kein Laut ungedämpft hinauskommt. Unter diesem Dach, das nach der Traumschwitze der Brüder muffelt, ist gut flüstern. Der Wolfskopf fackelt nicht lang und berichtet dem Älteren Bruder gleich das Wichtigste:
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