Roman unserer Kindheit
Sybille hat eine volle Woche – der Wolfskopf zeigt sieben unsichtbare Finger – Hausarrest bekommen.
Der Mann ohne Gesicht will möglichst behutsam vorgehen, gerade so planvoll, wie es das Gewebe einer derartigen Sache aushält. Zuerst soll seine zwischenmenschliche Membran, das Mullquadrat, durch das er schnauft und spricht, dort in Erscheinung treten, wo die Frauen der Siedlung Milch, Mischbrot und die Zigaretten für ihre Männer kaufen. Wenn einer in den Geschäften mit Namen begrüßt wird, ister, egal, ob er eine Schnauze, einen Schnabel oder ein Nichts zwischen Augen und Hals spazieren trägt, gemeinschaftlich grob ein Hiesiger geworden. Also hat er heute Morgen erst einmal mit dem Bäcker und mit Tabak-Geistmann angefangen.
Alles lief fast wie erwartet. Die junge Bäckersfrau hat ihn, als sie das Roggenbrot in hellgraues Papier einschlug, natürlich nicht gefragt, wo sein Gesicht geblieben ist. Stattdessen erzählte sie in versierter Kürze, wie ihr Vater und einer ihrer Onkel bei der Eroberung einer russischen Stadt, in deren Namen damals wie heute die Konsonanten zischen, dass es eine Pracht ist, spurlos in Schnee und hartgefrorenem Schlamm verloren gegangen sind. Erst neulich hatte sie alle Briefe der Krieger in einem der Backöfen verbrannt, um sich den gruseligen Russenschlamm, von dem die beiden unnötigerweise doppelt nach Hause geschrieben hatten, nicht mehr so übertrieben deutlich, so tintenbraun auf hässlich vergilbtem Weiß, vorstellen zu müssen. Wahrscheinlich hat die patente, in wenigen Ehejahren schwerhüftig gewordene Bäckersgattin, während er in angemessenem Takt zu ihren Sätzen nickte, in einem Vergangenheitsaufwisch auch seine Nase und seine Augenbrauen in Schneetreiben und eisigem Dreck verschwinden lassen. Das ginge in Ordnung. Das durfte ruhig so sein. Dem Mann ohne Gesicht wäre es aufdringlich, albern, ja sogar peinigend komisch vorgekommen, ihr ins Wort zu fallen und ihr zu verraten, dass sein klassisch gerader Zinken, sein Wangenfleisch samt Grübchen und der Schwung seiner Oberlippe, von Männern nicht selten als weibisch abgelehnt, von Frauen aber gern geküsst, dereinst nicht den Weg der Kälte, sondern den Weg der Briefe, den Feuerweg ins Nichts, genommen haben.
Den Brotlaib in der Einkaufstasche, ging es eine Tür weiter ins Tabakwaren- und Zeitschriftengeschäft. Sein Eintreten schlug ein so zauberhaftes Geklingel an, dass er sich umwandte und zu den Messingglöckchen aufsah, die an dicken verschiedenfarbigen Wollfäden von der Decke baumelten und gar nicht zu Ende schwingen wollten. Herr Geistmann, der aus dem Hinterzimmer kam, freute sich herzlich, dass der Unbekannte so offensichtlich Gefallen an seinem Fünfklang fand. Die meisten Besucher seines Ladens verraten nämlich nicht, ob und in welchem Maße sie empfänglich für dergleichen sind. Horst Geistmann ist überzeugter Nichtraucher und fanatischer Liebhaber fast aller Arten von Musik, behält aber beides im Verkaufsgespräch eisern für sich. Das ist bestimmt nicht falsch, sondern in seinem Interesse und in dem seiner Kundschaft. Nur gelegentlich, vor allem an den umsatzstarken Freitagnachmittagen, macht der Druck der doppelten Verhehlung den zierlichen, ja mageren Mann nervös, Auge in Auge mit einer schwarzgelockten, regelmäßig lottospielenden Kundin wird er sogar richtig zappelig. Dann spitzt er schnell die Lippen und pfeift lautlos die ersten Takte eines Lieds, gern etwas Schmissiges, noch lieber etwas Sehnsuchtswildes, am liebsten ein paar liebeskranke Walzertakte aus irgendeiner Operette.
Immerhin lässt sich zumindest seine zweite Passion, sein Faible für Romane aller Genres, mit dem Geschäft verbinden. Der Ältere Bruder, der allmählich nicht mehr umhinkann, das eine oder andere Spiel zwischen den Erwachsenen auch nach deren Logik zu kapieren, beäugt mit Misstrauen, fast schon mit Unmut, wie Herr Geistmann die Neuzugänge der Leihbücherei, die er parallel zum Rauchwaren- und Zeitschriftenverkauf betreibt, über die schwarzgelackte Thekeauf den flachen Bauch und die ein wenig vorstehenden Beckenknochen der Mutter zuschiebt. Unser großer Bruder erkennt das merkwürdige Säuseln, in das Herr Geistmann schon während dieses Schiebe- und Gleitvorgangs verfällt, er sieht mit überscharfem Erstgeborenenblick die Lider der Mutter flattern, wenn sie mit beiden Händen zugleich nach dem Roman fasst und Herr Geistmann genau im Moment dieses noch zögerlichen Zugriffs beteuert, er habe das
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