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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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werden, weil sie ja selber nicht zu den Jesus-Leuten gehörte, weil sie, auf Geheiß der Mutter, auch nicht in die Kirche gehen durfte und deshalb genauso wenig erfahren hatte, wie alles, vom Böse-Sachen-Machen bis zum Ans-Kreuz-genagelt-Sein, im Einzelnen zusammenhing. Bestimmt wurde den normalen Kindern hier in der Kirche jeden Sonntag, während über den Bänken die Orgel dröhnte, von einem unaufhörlich schreienden und mit den Armen fuchtelnden Pfarrer Wort für Wort eingeschärft, welche Sünden Jesus auf dem Gewissen brannten. Es musste etwas ungeheuer Schlimmes dabei gewesen sein. Womöglich war Jesus angenagelt worden, weil er das Christkind, weil er das süße kleine Christkindlein in der Krippe – vielleicht mit einem Messer? Bestimmt mit einem Messer! – abgeschlachtet hatte.

Sonnentag
    Annabett Böhm kann mehr als streng sein. Der Wolfskopf, den sein Vater regelmäßig haut, schwört bei Gott, eine väterliche Ohrfeige sei höchstens halb so schlimm, wie von Sybilles Mutter böse angeguckt zu werden. Sogar ein Faustschlag direkt aufs Ohr, der dann noch lang im Schädel klingelt, ein Hieb, wie ihn die Huhlenhäusler aus der Schulter schlenzen, ist seines Erachtens einem scharfen Tadel durch Sybilles Mutter vorzuziehen. Deswegen passt er jetzt in der Böhm’schen Küche höllisch auf, dass ihm mit der sahnig glitschigen Himbeertorte kein Missgeschick passiert. Der andere Geburtstagskuchen, der bunte Obstkuchen, ist ihm eine Warnung gewesen. Als er einen etwas zu großen Brocken mit der seltsam winzigen Gabel, die Frau Böhm auf eine gelbe Papierserviette neben jeden Teller gelegt hat, in Richtung Mund balancierte, wäre ihm schon beinahe eine schlüpfrige Hälfte Dosenpfirsich auf die Tischdecke geplumpst.
    Nicht nur der Wolfskopf, auch seine Freunde schaufeln hochbehutsam. Jetzt steckt der Schniefer die Kuchengabel genau senkrecht in sein Stück Torte, wartet aber, die Hand über dem Teller, sicherheitshalber noch einen Augenblick, ob sie so hält, bevor er sein Schnupftuch aus der Hose zerrt und sich schon wieder die noch völlig saubere Nase putzt. Der Ami-Michi hat, während er ein Fernfahrer-Abenteuer seines Vaters nacherzählte, den Teller rechts und links festgehalten, als könnte der schlimm blutige Verkehrsunfall, um den es inder Geschichte ging, das Porzellan ins Schlingern bringen. So gibt sich jeder auf seine Weise Mühe, ordentlich zu sein. Nur das Geburtstagskind, Sybilles kleine Schwester, baggert sich riesige Stücke in den Mund, kippelt mit dem Stuhl und redet in einem fort das blöde Zeug, das sie meist herausschwatzt, wenn sie bei älteren Kindern, insbesondere vor den Freunden ihrer großen Schwester, Eindruck schinden will.
    Frau Böhm gießt trübschlierigen Holundersaft in alle Gläser. Außer dem Fröhlich-Mädchen, dieser zimperlichen Zicke, hat ihre Kleine nur die Jungen eingeladen, mit denen Sybille spielt. Ihre Große ist und bleibt ein Bubenmädchen, wird auch in naher und ferner Zukunft mit den Kerlen ziehen, daran ist für Annabett Böhm nicht mehr zu rütteln. Und das Geburtstagskind, die kleine Äffin, macht der Schwester zurzeit wieder einmal alles nach. In Bälde schwingt das Pendel wieder in die andere Richtung, und sie will nicht einmal direkt nach Sybille ins Bad, weil es dort angeblich unerträglich stinke, sogar wenn sich die ältere Schwester drinnen garantiert nur die Hände gewaschen hat.
    Annabett Böhm weiß nicht, dass Sybille bei der Auswahl der Geburtstagsgäste die Hand im Spiel gehabt hat. Zuerst hat sie ihre Schwester mit der kleinen Tafel Nuss-Schokolade bestochen, die ihr im hinteren Block vom Mann ohne Gesicht geschenkt worden war. Aber kaum hatte das Schwesterluder den letzten Riegel weggefuttert, wollte es nicht mehr an die gemeinsame Abmachung erinnert werden. Also musste Sybille andere Saiten aufziehen. Sie drohte, der Mutter zu erzählen, wie verhohlen gehorsam der Fröhlich-Bub mit ihrem jüngeren Töchterchen regelmäßig Richtung Fahrradkeller verschwinde, um sich nach einem Weilchen mit roten Backen und betont unauffällig wieder zu den anderenKindern zu gesellen. Als das nicht reichte, als die Kleine nur schnippisch mit den Achseln zuckte, musste Sybille deutlich werden. Das doofe Kerlchen sei doch beim letzten Mal, nach der letzten Untersuchung durch die strenge Frau Doktor, mit rotgeheulten Augen aus dem Keller hochgekommen. Das half sofort. Die Kleine log so perfekt, als sie sich den Wolfskopf, den Ami-Michi, den Schniefer und den

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