Roman unserer Kindheit
Klassenkameradinnen hat den Sprungin dieses spielerische Idiom geschafft. Ihrer Banknachbarin gelang es bis zuletzt nicht einmal, den eigenen Namen in Doboribis zu verschlüsseln. Und bei Sybybibillebe kamen sogar die besseren Geheimsprecherinnen schlimm ins Stammeln. Als sie die Treppe hochstieg, um zum ersten Mal an der Tür des Unbekannten zu klingeln, hat sie bei jeder Stufe leise Sybybibillebe zu sich gesagt. Wie dann die Tür aufging, war sie durch diese Übung so auf Zack, dass ihre Mutter, die flotte, selbst alles andere als verstockte Annabett Böhm, stolz auf ihre Älteste gewesen wäre, hätte sie deren Auftritt mit angesehen. Der Mann ohne Gesicht winkte sie gleich herein.
Als er sie in der Küche fragte, ob sie Kakao mit ihm trinken wolle, log sie ihm vor, Kakao, den sie wie alles Milchige nicht ausstehen kann, sei ihr Lieblingstrunk. Und während er am Herd hantierte, nutzte sie die Zeit, um sich das Bild, das in den Tisch geritzt war, ganz genau anzusehen. War es im Großen, von den komischen kleinen Kästchen abgesehen, nicht ein auf den Kopf gestelltes Kreuz? Mit einem Kreuz hat sie es erst vor ein paar Tagen zu tun gekriegt. Am letzten Schultag war es dazu gekommen, dass zwei von den Huhlenhäuslern, zwei der größeren, Jagd auf sie und ihre kleine Schwester machten. Die Mädchen rollten mit den Fahrrädern an den beiden üblen Burschen vorbei, als diese vor Eis-Hähnlein standen und an ihren Tüten schleckten. Einer der Huhlenhäusler rief ihnen eine Schweinerei zu, und ihre Schwester, die allenfalls ahnen konnte, was mit dem Schmutzwort an ihrem oder an Sybilles Körper geschmäht wurde, quäkte über die Schulter retour: «Und euer Papa hockt im Gefängnis!» Darauf schmissen die Huhlenhäusler in einem jähen Akt absolut furchterregender Vergeudung ihre Eistüten in den Dreck und rannten los.
Zum Glück hatten die Mädchen erst einmal einen guten Vorsprung. Sybilles Schwester, von der ihre Mutter sagt, sie sei mitunter so schrecklich träge wie ein Lama, machte die Panik richtig Dampf. Als sie hinter der Apotheke um die Ecke in den Elsternhorst einbogen, konnten ihre Verfolger sie für ein kurzes Weilchen nicht mehr sehen. Sybille verhalf die Not zu einem Einfall, sie wechselte die Straßenseite. Ihr keckes Schwesterchen, inzwischen schon ganz weiß vor Angst, kurvte hinterher, rutschte wie sie vom Sattel, und gemeinsam stolperten sie, die Räder schleppend, alle vier Stufen hinauf zur Mitteltür, die auch am Werktag stets weit aufgestellt ist. Drinnen sah Sybille mit dem ersten Blick, was den mächtigen Türflügel vom Zufallen abhielt, und ließ ihr Fahrrad auf die Fliesen krachen, um den großen, schmiedeeisernen Haken mit beiden Händen aus seinem Haltering zu stemmen.
Die von der eigenen Schwere zugezogene Tür schnitt alles Außen ab. Aber gerettet fühlten sich die Mädchen nicht. Sybille drückte den Hintern an die Tür, die glattgewetzten Sohlen ihrer Sandalen quarrten über den Boden. Ihre Schwester, der schnell übel wird, spuckte Magensaft und die Bröckchen eines halbverdauten Wurstbrots in die Speichen ihres Rads. Dann stellte sie sich neben Sybille, um ihr beim Zuhalten der hohen Tür zu helfen. Doch die Huhlenhäusler hatten nicht mehr mitgekriegt, wohin die Verfolgten entkommen waren. Während die Mädchen warteten und, die Rücken am kühlen Holz, in einem besonders zähen Zeitfluss erst nach und nach erfassen durften, dass sie sich dem Zugriff der bösen Buben entzogen hatten, schauten sie durch die Tür, die ihnen gegenüber offen stand, aus dem Vorraum ins eigentliche Innere ihres Zufluchtsorts. Sie konnten bis an dessen anderes Ende sehen, wo im Licht hoher Fenster dieser Jesus an seinKreuz genagelt hing, wo Marterholz und Mann an langen goldenen Ketten unter der Decke schwebten.
Sybilles kleine Schwester hätte plötzlich gern gewusst, warum die Leute, die am Sonntag in die Kirche gingen, Jesus an diese Balken geheftet hatten. Es hatte etwas mit dem Christkind, mit Weihnachten, mit der Mama von Jesus, mit Maria und ihrem Josef, mit Ochs und Esel, mit Engeln und mit den Sünden der ganzen Welt zu tun. Die Sünden, das waren arge Taten, für die man sogar ins Gefängnis kommen konnte. Sie überlegte, ob sie sich bei ihrer großen Schwester nach den Sünden von Jesus erkundigen sollte. Vielleicht war er wie der Vater der Huhlenhäusler wegen Klauen und Herumprügeln eingesperrt gewesen? Aber wahrscheinlich würde Sybille gleich mit der ersten Frage wütend auf sie
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