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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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alleinstehenden Sportfreund damals zur Hand gegangen. Noch einmal wird für den Mann ohne Gesicht der rot-schwarze Kokosläufer, den eine Unzahl großköpfiger Teppichnägel vor der alten Ladentheke fixierten, von den Dielen gelöst und aufgerollt. Schon steht er als verschnürte Rolle draußen neben der Tonne. Schümer und Geistmann und auch der Mann ohne Gesicht sehen durch das mit Zeitungen halbhoch verklebte Fenster, wie ein Passant vor dem Teppich den Schritt verlangsamt und haltmacht. Im Handumdrehen hat das unverwüstliche Teil denjenigen gefunden, der es mitnimmt, weil er voraussieht, dass es, entzweigeschnitten, perfekt auf den Fußboden seines Schrebergartenhäuschens passen wird.
    Jedem das Seine. Jedem, was ihm gebührt. Mir liegt einanderer, viel kleinerer Teppich näher. Ich schnappe mir das hübsche rosarote Ding und hole seine glattgekämmte Wolle zu mir in meinen Sommer. Das Läuferchen, das mir etwas bedeuten soll, lag bei Schümers oben unmittelbar vor der Treppe. Und als die gute Evelyn, die unter chronisch kalten Füßen litt, zum ersten und zum letzten Mal auf nackten Sohlen nach unten rennen wollte, verfing sich ihr linker großer Zeh in zwei zu einer Schlaufe verdrillten Teppichfransen. Mit Hausschuhen wäre das nie passiert. Aber einer im Nachthemd, die sich eben erst zu Tode erschrocken hat, kann es leicht geschehen, dass sie vergisst, die eisigen Zehen in die noch warmen Pantoffeln vor dem Ehebett zu schieben.
    Schümer putzte sich im Bad die Zähne, als seine Evelyn Hals über Kopf die steile Treppe nach unten krachte. Viel später, während Doktor Junghanns und die wirklich flugs eingetroffenen Sanitäter mit der Bewusstlosen zugange waren, eilte er noch einmal nach oben, um sich anzuziehen. Als er die Pyjamajacke auf das Bett warf, entdeckte er den aufgeschlagenen Photofreund. Dummerweise hatte er das Heft in der Mittagspause auf dem Nachtkästchen vergessen, und Evelyn war, weil sie ihre Kreuzworträtselzeitschrift bis auf das letzte Kästchen vollgekrakelt hatte, auf die Idee verfallen, es aufzublättern. Wie ungewöhnlich, da die Fotomanie ihres Gatten sie doch in all den Jahren zumindest gelangweilt, wenn nicht gar angeödet hatte! Wie unvorhersehbar für ihn. Weit waren seine Evelyn und ihre Langeweile nicht gekommen. Bereits das zweite, das verborgene wahre Umschlagbild, das einen verblüffend bleichen, fast albinohaft weißhäutigen dänischen Buben in einer winzigen, grau verblichenen Dreiecksbadehose zeigte, hatte ihr offensichtlich ganz und gar genügt.

Sonnentag
    Die Kinder müssen sich die Dunkelheit erschleichen. Ein diebisches Vergnügen flackert in ihren Herzen auf, wenn es mit Glück gelingt. Das ist selten genug der Fall. Die Eltern wollen sie partout nicht in die Sommernächte schlüpfen lassen, und Annabett Böhm steht solch seliger Flucht als erste Wächterin entgegen. Im Unterschied zu allen übrigen Müttern ruft sie ihre Töchter abends nicht vom Fenster aus herein, sondern tritt ein gutes Dutzend Schritte vor die Tür des dritten Aufgangs. Zuerst winkt sie ihre Jüngere zu sich, dann hört Sybille, die vergeblich in die andere Richtung zum gelben Block hinüberschaut, den eigenen Namen und muss in immer schon ein wenig vorwurfsvollem Ton erfahren, dass sie spätestens in einer halben Stunde nachzukommen habe. Als wäre damit ein Signal erklungen, haben in schneller Folge weitere Mütter an den Fenstern ihren Auftritt. Und alle Kinder, die nach dem Abendessen erneut in den Hof hinunterstürmen dürfen, müssen dann wohl oder übel vor der Macht der Großen kapitulieren und das verheißungsvolle Abfließen des Sonnenlichts, den dämmrigen Kniefall ihres stets groß gewesenen Tags, gegen die gelbstarre Helle der Küchen tauschen.
    Heute jedoch hängt Annabett Böhm am Draht. Durch die Kupferleitungen ihres Telefons wispert ein Dialog, der noch nicht enden darf. Wie in fast allen Wohnungen, die in den letzten Jahren einen Anschluss gelegt bekommen haben,steht der Apparat der Böhms im Flur auf einem eigens hierfür angeschafften schmalen Schränkchen. Im gelben wie im grünen Block telefoniert man, damit es nicht ungebührlich lange dauert, im Stehen, aber für dieses besondere Gespräch hat sich Sybilles Mutter schon während der ersten Sätze einen Küchenstuhl in den Gang geholt. Seitdem sitzt sie, ohne sich anzulehnen, presst Knie an Knie und krümmt die Zehen in den Schuhen. Die Stimme in der halbierten Kunststoffkugel, die Stimme in ihrem Ohr ist ganz die alte.

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