Roman unserer Kindheit
Kaffee mit der Mutter, ihrer älteren Schwester, verfliege der amerikanische Geruch, und sie beginne, bis zum Hals nach ihrem Parfüm und darüber nach Haarspray zu duften. Und schon erzählen sie den Witz, wie eines kühlen Abends nacheinander ein Franzose, ein Engländer, ein Amerikaner und ein Russe bei einem deutschen Bauern um Obdach bitten. Der Bauer schickt alle vier zu seinem alten Ziegenbock hinüber in den Stall. Da sei es warm. Der Franzose gibt als Erster auf. Lieber will er unter blankem Sternendach erfrieren, als den Mief des Tieres auszuhalten. Der Amerikaner und der Engländer wanken erst gegen Mitternacht gemeinsam aus dem Stall. Weil sie im Witz wie in der Wirklichkeit dieselbe Sprache sprechen, klagen sie lautstark voreinander, wie unerträglich es im Stall des Bockes stinke. Die Zwillinge, die außer «yes» und «no» kein Wörtchen Englisch können, kauen so auf den wenigen Sätzen dieses nächtlichen Geschimpfes herum, dasses für ihre Zuhörer wunderbar transatlantisch klingt. Der Amerikaner und der Engländer kuscheln sich im Gras zusammen. Die Nacht wird eisig kalt. Am Morgen sieht der Bauer seinen alten Ziegenbock draußen im Freien stehen. Der eine Zwilling macht vor, wie steif gefroren das arme Tier zu seinem Herrn hinstakst. Mit der Stimme des Bauern fragt sein Bruder den Bock erschrocken, warum er denn um Himmels willen nicht in seinem warmen Stall geblieben sei. Sybille gluckst triumphierend, weil sie die Antwort erraten kann. Und schon wird allen in einem meckrigen Ton, mit einer Märchenziegenstimme, just diese Auflösung gegeben. Sybilles kleine Schwester kichert mit, solang die anderen lachen. Dann aber fragt sie den Älteren Bruder, ob er ihr beschreiben könne, was für ein Tier ein Russe sei. Und als sie merkt, wie verdutzt die Größeren sie darauf begucken, fügt sie hastig hinzu, jetzt falle es ihr wieder ein, ein Russe, das sei doch ein Bär.
Da schlitzt die Sonne die Wolkendecke auf und lässt das mit Kondenswasser beschlagene Fensterchen der Laube leuchten. Der Ami-Michi rennt an die Tür und japst vor Schreck, weil draußen, direkt vor seiner Nase, der Wolfskopf auf der Kokosmatte steht. Die Mutter hat ihn hinterhergeschickt, und nun kommt er gerade richtig, um zu verkünden, dass es sich ausgeregnet hat. Schon wird die Spitze der Leiter aus dem Baum gefädelt. Der Schniefer klettert als Erster hoch und ruft hinunter, die Teerpappe sei bald so gut wie trocken. Der Wolfskopf will auch nach oben, aber Sybille tritt ihm in den Weg, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Er muss mit ihr noch einmal in die Laube. Weil er der Größte ist, soll ihm der Ältere Bruder den Arm um die Schultern legen. Draußen wird dann noch einmal gemeinsam überlegt,wie sie es nun am schlausten anstellen. Und Sybille, die das beste Augenmaß für viele Dinge hat, rückt den Fuß der Leiter ein Stück zurück, damit sie nicht zu steil steht.
Zum Glück ist unser großer Bruder leicht, und während sich die Sonnenscheibe endgültig freischwimmt, darf er sich einen besonderen Begriff seiner Erdenschwere erwerben. Jedes Mal, wenn sein gesundes Bein die Sprosse wechselt, fällt ihm ein Gutteil seines Gewichts in die schmalen Handgelenke, obwohl der Wolfskopf gerade dann versucht, den Schädel, so fest es nur geht, von unten gegen sein Hinterteil zu pressen. Als der Ältere Bruder es hoch genug geschafft hat, packen ihn Sybille und der Schniefer, die sich, flach auf dem Bauch, über den Teerpappenrand nach unten beugen, am Hemd. Beim ersten kräftigen Ruck reißt prompt ein Knopf ab. Der Ami-Michi, der unten die Leiter festhält, sieht die perlmuttfarbene Scheibe wie weggeschnipst zur Seite fliegen. Schon schiebt der Ältere Bruder die Brust über die letzte Sprosse. Und dann hat es auch das verflixte Bein, in dem das Blut tobt wie verrückt, hinauf aufs Dach geschafft.
Sybilles kleine Schwester aber forscht nach dem abgegangenen Knopf. Sie sucht im nassen Gras. Mit der ihr eigenen Sturheit gibt sie nicht auf, bis sie das milchig helle Kunststoffplättchen zwischen den anders weißen Gänseblümchen gefunden hat. Kurz überlegt sie, ob sich der Knopf wohl drüber freut oder ob er ein kluger Knopf ist und sich vor ihr fürchtet. Dann drückt sie ihn mit spitzem, steifem Zeigefinger tief in die aufgeweichte Erde. Die Großen werfen sich unterdessen mit Geheul auf den Emporgeschafften. Zu fünft wälzen sie sich auf der warmen Teerpappe quietschend und lachend übereinander, und im großen gemeinsamen
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