Roman unserer Kindheit
kriegt Sybille Ärger mit ihrem Vater.»
Das war nicht gut. Der Ältere Bruder spürt, wie zweifelnd ihn seine Freundin von der Seite anschaut. Bestimmt denkt sie, dass derartige Gründe in den Ohren eines Huhlenhäuslers läppisch klingen müssen. Gleich dem Wolfskopf, dem Ami-Michi und dem Schniefer sieht sie gewiss voraus, in welch hohem Bogen, über sein riesiges Rad hinweg, der Weißling ihnen gleich als einzig angemessene Antwort Speichel und in den Rachen herabgezogenen Rotz vor die Füße spucken wird.
«Was gebt ihr mir, wenn ihr vorbeidürft?»
Sybille zupft an ihrem Drachenkleid, hebt es ein bisschen, zieht es in die Breite, damit der Weißling sieht, dass zwischen Feuerzungen und gezackten Schwänzen nirgends eine Tasche klafft. Brav stülpt der Wolfskopf die weißen Innensäcke seiner Lederhose ganz nach außen. Nichts als ein silbernes Kaugummipapierchen flattert ihm vor die Sandalenspitzen. Der Ami-Michi zückt einen Himbeerlutscher, dessen dunkelrote Scheibe unter dem Zellophan in zwei verschieden großeStücke zerbrochen ist. Der Schniefer geniert sich nicht, sein Taschentuch zu offerieren, so blau, so sauber und so schön gefaltet, wie es ihm seine Mutter heute Morgen nach draußen mitgegeben hat. Der Ältere Bruder schiebt beide Hände in seine Shorts und bietet das wahrscheinlich Beste an: den schönen neuen Tintenblei samt Schutzkappe aus Blech, den er als einen echten Glücksfund am Nachmittag vor Tabak-Geistmann über den Rand seiner Karre im Rinnstein liegen gesehen hat. Ihm würde so ein wunderbarer Stift als Wegegeld genügen.
«Alles nur Scheißdreck! Wenn ihr nichts habt, müsst ihr was machen. Ihr müsst jetzt alle meinen Roten Peter lecken, richtig schlecken und dann sagen, dass er lecker schmeckt. Der blöde Taschentüchler fängt damit an. Dann einer nach dem anderen. Die Dicke kommt als Letzte dran. Beeilt euch lieber. Sonst ist die Kleine, wenn ihr hinkommt, schon nackig ausgezogen und mit einem Messer abgemurkst.»
Es war ein böses Knallen. Nie hätte er gedacht, dass es in seinem Inneren, in einem seiner Beine, in seinem linken Knie derartig krachen könnte. Jetzt liegt er an der Außenlinie und kann die frisch gestreute Kreide riechen. Schon viel zu lang, ein stumm verstocktes Weilchen, gucken sich die anderen die Bescherung an. Er spürt die Atemstöße seiner Sportfreunde auf der Gänsehaut des Oberschenkels. Jetzt sagt sein alter Trainer, so etwas sei selten so schlimm, wie es auf den ersten Blick wirke. Aber dabei schwankt ihm die Stimme, kiekst kindlich hoch, als hätte sie Mühe, die Fassung des Erwachsenseins zu wahren. Sybilles Vater schaut lieber weiter in den Himmel, den das neue Flutlicht merkwürdig grobkörnig, mehr dunkelgrau als schwarz erscheinen lässt. Einmal hat erbei einem Freundschaftsspiel gegen die zweite Mannschaft von Fortuna Oberhausen sehen müssen, wie nach einem ungeschickten Foul an deren Mittelstürmer etwas Kleines, aber Knochenweißes mitten aus dem allerwichtigsten Gelenk des Körpers ragte. Ein Stück Meniskus, hieß es später, sei durch die Haut an die frische Luft des Sonntagnachmittags gedrungen. Endlich kommen zwei Kameraden mit der Bahre. Er macht die Augen zu, als sich acht Hände unter sein Trikot, unter die kurze Hose und unter seine Stutzen schieben.
Annabett Böhm sitzt noch im dunklen Flur. Sie denkt an ihren Mann. Sie lobt ihn vor sich selbst. Halblaut beteuert sie, er habe durch die Jahre einen soliden Gatten und einen halbwegs passablen Vater abgegeben. Nur gegen Sybille ist er zu streng, manchmal auch ungerecht, als ahnte er, was er nicht wissen kann. Nie wird er es aus ihrem Mund gesagt bekommen. Annabett Böhm kann erstklassig schweigen, allein schon, weil sie das Gestehen von Geheimnissen prinzipiell geschmacklos findet. Nie soll ihr Mann erfahren, dass es ein Schrebergartenhäuschen gibt, in dem sie damals, vor zwölf Jahren, jede an den Deckenbrettern zerklatschte Mücke kannte. Ihr schmal- und kahlbrüstiger Ehemann soll nie begreifen müssen, um wie viel lieber ihr die großen, die langschenkligen, die breitschultrigen, die auf der Brust dunkel behaarten Männer sind.
Es ist vorbei. Der Weißling hat Wort gehalten und sie durchgelassen. Als Letzte kam Sybille an die Reihe. Dem Älteren Bruder, der dem Verlangen des Weißlings vor ihr nachgekommen war, brannte der garstige Geschmack des Roten Peters noch wie frisch gemahlener Pfeffer auf der Zunge, als sich seine Freundin über das Rad des Huhlenhäuslers
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