Romana Exklusiv 0186
Jedenfalls bezweifelte Enrique, dass der Brief echt war.
Am liebsten hätte er ihn zerrissen und weggeworfen. Dann könnte er die ganze Sache vergessen. Cassandra würde sich nicht noch einmal an seine Familie wenden, dessen war er sich sicher.
Doch trotz seines Misstrauens und der Tatsache, dass Antonio keine Kinder gehabt hatte, war Enrique neugierig, was dahintersteckte.
Sogar das Briefpapier empfand er als Beleidigung. Es war ein liniertes Blatt aus einem Schulheft oder dergleichen. Wahrscheinlich sollte damit der Eindruck verstärkt werden, ein Kind hätte den Brief geschrieben. Er verzog die Lippen, während er das Blatt aus dem Briefumschlag zog.
Lieber Großvater,
Du kennst mich nicht, und meine Mum sagt, Du wolltest mich auch nicht kennenlernen. Aber das glaube ich nicht. Ich wünsche mir, wir wären Freunde. Deshalb habe ich meine Mum überredet, mit mir dieses Jahr in den Ferien nach Spanien zu fahren. Wir kommen am zwölften Juni an und wohnen in der Pension del Mar in Punta del Lobo. Es liegt am Meer, aber ich weiß nicht, wie weit es von Tuarega entfernt ist. Du kannst mich bestimmt besuchen. Ich glaube auch, dass meine Mum sich freut, Dich zu sehen. Liebe Grüße von Deinem Enkel David de Montoya
Enrique biss die Zähne zusammen. Wie kann sie es wagen, ihrem Kind den Familiennamen de Montoya zu geben?, fragte er sich zornig. Wenn es überhaupt ein Kind gab, musste es nach Antonios Tod zur Welt gekommen sein. Und Enrique wusste, dass …
Nein, auf diese Gedanken wollte er sich jetzt nicht einlassen. Es ging hier nicht darum, was er über Cassandra Scott oder de Montoya, wie sie jetzt hieß, wusste oder nicht wusste. Wichtig war nur, dass dieser Brief seinem Vater nicht in die Hände fallen durfte. Momentan musste man jede Aufregung von dem alten Mann fernhalten.
Enrique zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb. Doch dann überlegte er es sich anders. Jemand könnte es dort finden und die Nachricht lesen. Deshalb holte er es wieder heraus und strich es glatt. Schließlich legte er es in das Buch in seiner Nachttischschublade.
Das Problem war damit aber noch längst nicht gelöst, wie Enrique sich später eingestand, als er in dem Säulengang des Innenhofs frühstückte. Um diese Zeit war es sehr angenehm, draußen zu sitzen. Normalerweise würde er jetzt schon mit den Managern seines Vaters über alle möglichen Fragen und Probleme diskutieren. Enrique vertrat seinen Vater und war momentan der alleinige Geschäftsführer des Familienunternehmens. Er nahm seine Verantwortung sehr ernst. Dass er sich an diesem Morgen auf nichts konzentrieren konnte, störte ihn sehr. Aber immer wieder musste er daran denken, dass es schon der fünfzehnte Juni war und Cassandra sich mit ihrem Sohn, wenn es ihn überhaupt gab, ungefähr fünfzig Kilometer entfernt in Punta del Lobo aufhielt. Würde sie es etwa wagen, zu ihnen nach Tuarega zu kommen?
Er stand auf und wanderte mit der Tasse Kaffee in der Hand über den Innenhof zu dem Brunnen. Neben dem Becken blieb er stehen und betrachtete die Wasserlilien, während er versuchte, sich zu beruhigen. Der Innenhof war von drei Seiten von den verschiedenen Flügeln des Palasts umgeben. Die vierte Seite war offen und mit leuchtend rotem Oleander und purpurfarbenen Azaleen bepflanzt, deren Duft Enrique an diesem Morgen kaum ertragen konnte. Eine warme Brise wehte ihm das Haar in die Stirn, und ungeduldig strich er es mit den Fingern zurück.
Verdammt, warum ausgerechnet jetzt, nachdem sie sich zehn Jahre nicht gemeldet hat?, überlegte er und trank einen Schluck Kaffee. Hatte sie vielleicht irgendwie erfahren, dass sein Vater krank war? Glaubte sie etwa, der alte Mann sei dadurch etwas zugänglicher und toleranter? Was soll ich jetzt machen?, fragte Enrique sich.
Cassandra beobachtete ihren Sohn, der im Wasser spielte. Er hatte sich mit Horst, dem Sohn eines deutschen Ehepaars, das in derselben Pension wohnte, angefreundet. Die Bucht war für Kinder geradezu ideal. Sie gestand sich ein, dass ihnen der Urlaub, den sie nur widerstrebend gebucht hatte, guttat.
Es war beinah fünf Uhr, und Cassandra hatte das Gefühl, lange genug in der Sonne gelegen zu haben. Sie hatte sich noch nicht an das Klima gewöhnt, was auch kein Wunder war, denn sie waren erst vor drei Tagen in diesem kleinen Ort in Andalusien angekommen. Cassandra wollte keinen Sonnenbrand riskieren.
David kannte solche Probleme nicht. Er hatte dunkles Haar und eine dunklere, weniger empfindliche
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