Romana Exklusiv 0186
Junge ist ja auch ein de Montoya, das lässt sich nicht leugnen, deshalb ist er wahrscheinlich sehr eigensinnig, sagte Enrique sich spöttisch.
Es kam ihm ungerecht und unfair vor, dass Cassandra ihm und seiner Familie die Existenz des Jungen verschwiegen hatte. Aber kann man es ihr wirklich verübeln?, fragte er sich. Nach allem, was geschehen war und was er ihr angetan hatte, glaubte sie sicher, es sei ihr gutes Recht gewesen, den Kontakt nach Antonios Tod abzubrechen.
Für Enriques Vater würde es ein Schock sein. Wenn er gewusst hätte, dass er einen Enkel hatte, hätte er sicher Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das Sorgerecht zu bekommen. Einen anderen Enkel hatte er nicht, und für Julio de Montoya war die Familie das Wichtigste im Leben. Es wäre ihm in dem Fall egal gewesen, dass er Cassandra nicht mochte und versucht hatte, die Hochzeit zu verhindern.
Da Cassandra sich dessen natürlich bewusst gewesen war, hatte sie die Familie ihres Mannes nicht über die Geburt ihres Sohnes informiert. Sie hatte schmerzlich erfahren müssen, wie rücksichtslos sein Vater sein konnte und wie rücksichtslos er, Enrique, die Wünsche seines Vaters hatte durchsetzen wollen.
Darüber wollte er jedoch jetzt nicht nachdenken. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für Gewissensbisse. Er durfte nicht vergessen, dass Cassandra Antonio von seiner Familie und der jungen Frau, mit der er verlobt gewesen war, weggelockt hatte. Hatte sie etwa Gewissensbisse gehabt? Es hatte ihr noch nicht einmal leidgetan, dass sie …
Enrique atmete tief ein. Nein, er wollte seine eigene Rolle bei der ganzen Sache lieber nicht hinterfragen. Es hatte tragisch geendet, und das war schlimm genug. Cassandra hatte Antonios Ehre und seine Zukunft, sein Leben zerstört. Hatte sein Bruder etwa herausgefunden, dass seine Frau ihn betrogen hatte? War vielleicht deshalb der Unfall passiert, als sie unterwegs in die Flitterwochen gewesen waren?
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen, dann müsste Antonio auch herausgefunden haben, was mein Vater und ich geplant hatten, überlegte Enrique. Cassandra hätte sich in dem Fall bestimmt mit ihnen in Verbindung gesetzt und versucht, sich zu rächen.
Glücklicherweise hatte er sich nicht anmerken lassen, wie betroffen er über Davids Existenz war. Cassandra musste glauben, er hätte den Schock rasch überwunden und sei zornig, weil sie ihnen ihren Sohn verheimlicht hatte. Zweifellos hielt sie ihn für gefühllos, und das war ihm auch lieber.
Aber wie sollte er es seinem Vater beibringen? Enrique schüttelte den Kopf. Vor zehn Jahren wäre es viel leichter gewesen. Damals war Julio de Montoya noch völlig gesund, sehr dominant, rücksichtslos und jeder Situation gewachsen. Deshalb hatte er es auch nicht hinnehmen wollen, dass Antonio sich ihm widersetzt und darauf bestanden hatte, die Engländerin zu heiraten, die er während seines Studiums in London kennengelernt hatte. Julio hätte beinah alles getan, um diese Heirat zu verhindern. Er hatte sogar seinen ältesten Sohn nach England geschickt und ihn aufgefordert, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass Antonio und Cassandra nicht heirateten.
Dass ich keinen Erfolg hatte, hat mein Vater mir nie verziehen, dachte Enrique. Sein Vater ahnte natürlich nicht, was wirklich geschehen war und warum er, Enrique, unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekommen war.
Wenn er Antonio die Wahrheit gesagt hätte, hätte sein Bruder die Hochzeit in letzter Minute abgesagt, dessen war Enrique sich sicher. Er hatte jedoch geschwiegen, weil er sich viel zu sehr geschämt und sich wegen der Rolle, die er in der ganzen Sache gespielt hatte, verachtet hatte. Deshalb hatte er Cassandra schließlich gewinnen lassen.
Wieso gewinnen?, fragte er sich jetzt. Hatte sie wirklich gewonnen? Er wusste es selbst nicht.
Als er durch das Tal fuhr, das sich seit Jahrhunderten im Besitz seiner Familie befand, war es dunkel. Die angestrahlte Spitze der Kirche San Tomas und die vielen erleuchteten Fenster der Häuser im Dorf waren ein beruhigender Anblick. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass hier noch alles so war wie vor hundert Jahren. Es hatte sich jedoch viel verändert, vor allem während der Präsidentschaft General Francos. Glücklicherweise hatte man das politische Klima in dieser ländlichen Gegend nie so deutlich gespürt wie in den Städten. Während er an den Feldern und Weiden vorbeifuhr, auf denen die Stiere grasten, war er stolz auf das, was seine Familie erreicht
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