Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
noch Christen, Kommunisten, Sozialisten, Konservative und alles mögliche andere gab. Falls man unter »Demokratie« einen offenen, freien Meinungskampf versteht, ein Ringen um den richtigen Weg, dann haben wir nicht allzu viel davon. Und dazu ist nicht einmal ein Unterdrückungsapparat erforderlich, es hat sich einfach so ergeben.
Damals, unter Adenauer, waren die Milieus noch ziemlich autark, es gab nicht einen einzigen großen Schwarm, es gab mehrere kleinere Schwärme. Die Linken interessierten sich für die Meinung anderer Linker, die Konservativen lasen konservative Zeitungen. Heute kriegt man, dank Internet, fast alles mit, was irgendwo von irgendeinem wichtigen Menschen gemeint wird. Man kriegt immer alles mit. Man ist immer mittendrin.
Trotzdem gedeiht bei uns der Typus des Querdenkers, der in den Talkshows für eine gewisse Belebung im Rahmen des Schicklichen sorgen soll – unsere neue Apo, bestehend aus eloquenten Personen wie Hans-Olaf Henkel, Richard David Precht oder Alice Schwarzer. Der Inbegriff eines solchen Querdenkers ist der sympathische Heiner Geißler. Der Rebell Heiner Geißler tritt auf die denkbar unterhaltsamste Weise für Umweltschutz ein, für grünes Denken, für Bürgerbeteiligung, für die parlamentarische Demokratie, für Emanzipation und für soziale Gerechtigkeit. Er ist Mainstream, total, aber er vertritt den Mainstream mit so viel Temperament, dass er auch mir meistens als der Prototyp des rebellischen alten Mannes erscheint.
In einem Heft der Kulturzeitschrift Merkur geht es um das Thema »Konformismus«. Niemand möchte ein Konformistsein, tatsächlich sind es aber fast alle. Warum? Die Herausgeber antworten: »Es ist etwas anderes, ob man sich als professioneller Tabubrecher in Talkshows feiern lässt oder ob man freimütig die Wahrheit sagt, seine Wahrheit. Dafür muss man womöglich einen Preis bezahlen. Zu missfallen oder gar ausgestoßen zu werden aus dem Kreis derjenigen, die die richtigen, die guten, die hilfreichen Ansichten vertreten.«
Harald Schmidt gehört zu einem anderen Typus. Er hält sich nicht immer an die üblichen Sprachregeln und Tabus, er pfeift auf den Mainstream. Das wirkte lange erfrischend. Es ist aber auch unmöglich zu sagen, wofür er stattdessen steht. Er hütet sich davor, sich in irgendeiner Weise festzulegen. Das macht ihn fast unangreifbar, so wie früher die Hofnarren unangreifbar gewesen sind. Leute wie Harald Schmidt oder Henryk M. Broder begleiten den Mainstream, sie leben von ihm wie Fischer, sie laufen an seinem Ufer und werfen ihre Netze aus. Die eine oder andere Pointe verfängt sich immer darin.
Noch einmal die Frage: Wer entscheidet darüber, welche Ansicht »richtig« ist und welche »falsch«? Im Merkur schreibt der Medientheoretiker Norbert Bolz, dass die meisten Leute die Ansichten übernehmen, von denen sie glauben, dass die meisten anderen Leute sie auch haben. Darüber, welche Meinung gerade die allgemein übliche ist, informieren die Massenmedien. Die Meinungsmacher dort sind aber auch nur Leute wie alle anderen. Sie tendieren dazu, die Meinungen und die Themen anderer Meinungsmacher zu übernehmen – sie verhalten sich genau wie die Versuchspersonen in Solomon Aschs Experiment mit den vier Linien. Sie trauen ihren eigenen Augen nicht.
Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts. Bewege dichin dieselbe Richtung wie alle anderen. Vermeide Zusammenstöße.
Weil der Mainstream heute die normative Rolle übernommen hat, die früher von Traditionen und Sittengesetzen gespielt wurde, tendiert man dazu, vom Mainstream abweichende Meinungen als unmoralisch zu verurteilen. Wissenschaftler, die zur angeblich nahenden Klima-Apokalypse eine abweichende Meinung vertreten, werden zum Beispiel »Klimawandelleugner« genannt – als ob es um Religion ginge und nicht um Wissenschaft.
In der Wissenschaft kann es ohne den Zweifel an scheinbaren Gewissheiten keine Entwicklung geben. Und weder in der Wissenschaft noch in der Kunst hat die Masse jemals etwas Bemerkenswertes hervorgebracht. »Alles Wertvolle«, schreibt Bolz, »verdanken wir außergewöhnlichen Individuen.«
Jemand, der wirklich ein Querdenker ist, müsste heutzutage vielleicht für die Wiedereinführung der Monarchie eintreten. Er müsste an den heiligen Idealen der sozialen Gerechtigkeit, am Atomausstieg und an der Emanzipation zweifeln. Mit anderen Worten, er müsste bereit sein, sich vom Schwarm zu einem gefährlichen Irren stempeln zu lassen.
Lob der Reaktanz
Ohne
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