Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
Tier, welches, weiß ich nicht – vielleicht einen Goldhamster. In 18 von 24 Versuchen passten sich die Kinder, die es besser hätten wissen müssen, der Mehrheit an. Sie sahen ein Bild ihrer Mutter und sagten, wie alle anderen: »Ich sehe einen Goldhamster.«
Wenn ich so etwas höre, bekomme ich Angst.
In den 50er Jahren, in denen ich geboren wurde, dachte in meiner westdeutschen Heimatstadt fast jeder, dass Deutschland die im Krieg verlorenen Ostgebiete auf keinen Fall aufgeben darf, dass Frauen nur in Ausnahmefällen arbeiten gehen sollen, dass Homosexualität eine Perversion ist, über die man am besten nicht spricht, dass es tausend wichtigere Dinge gibt als Umweltschutz. Heute denkt fast jeder in diesen Fragen ungefähr das Gegenteil. Auch ich denke das Gegenteil. Ich denke ziemlich genau das Gegenteil von dem, was meine Großeltern gedacht haben, die allerdings, in ihrer Zeit, völlig normal waren, mit anderen Worten: Mainstream.
In jeder Epoche haben die Menschen an andere Wahrheiten geglaubt, und zwar an die gleichen wie ihre Nachbarn. Die Furcht vor Hexen oder die Verehrung für den Kaiser, die in den Köpfen meiner Urgroßeltern wohnten, sind meinen Großeltern genauso falsch vorgekommen, wie mir heute der Gedanke falsch vorkommt, dass man die Ostgebiete nicht aufgeben darf. Und weil die Geschichte immer weitergeht, werden meine heutigen Meinungen den Nachgeborenen wohl auch seltsam vorkommen.
Ich weiß, dass ich in den Augen der Zukünftigen eine lächerliche Figur bin. Diese Erkenntnis macht mich demütig. Leute, die eine Meinung mit großer Selbstgewissheit vertreten, ohne die Spur eines Zweifels, so, als ob es kein Morgen gäbe, kommen mir dumm vor. Die einzige Haltung, die garantiert jeder Revision standhält, ist vermutlich der Zweifel.
Die Außenseiter, die Verweigerer des Mainstreams, haben nämlich oft recht behalten. Galileo Galilei wurde eingesperrt, weil er die Ansicht vertrat, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Die ersten Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht warenin den Augen der Mehrheit Spinnerinnen. 1980 waren die Grünen eine Randgruppe.
Das heißt, der Mainstream des Jahres 2100 wird heute vielleicht von drei oder vier Exoten am Rande der Gesellschaft vertreten.
Prophezeiungen sind schwierig, weil die Geschichte nicht immer in die gleiche Richtung marschiert. Viele denken, dass wir, wie seit 100 Jahren, auch in der Zukunft immer freier oder immer bindungsloser werden, dazu immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse anhäufen. Die Geschichte kenne nur eine Richtung, diese Richtung heiße Fortschritt. Das ist eine Mainstream-Idee von heute. Sie muss nicht stimmen. Das Wissen der Antike war im Mittelalter zu großen Teilen verschwunden. Die lockeren Moralvorstellungen mancher Naturvölker liegen näher bei unseren heutigen Ideen als beim Mainstream des 19. Jahrhunderts. Aus der Geschichte der Meinungen lassen sich keine vorhersagbare Richtung und kein Bewegungsgesetz ableiten.
In 50 Jahren schütteln die Menschen vielleicht den Kopf über unsere Angst vor der Klimakatastrophe. Vielleicht bleibt sie ja aus, so wie auch das große Baumsterben ausgeblieben ist. Ich behaupte nicht, dass es so kommt. Aber eines weiß ich nun wirklich genau: Sehr viele Gewissheiten jeder Epoche der Geschichte haben sich im Nachhinein als falsch herausgestellt.
Aber was wird zum Mainstream? Wer bestimmt das? Die Medien? Einer schreibt vom anderen ab, ist es so einfach? Erschafft sich der Mainstream, ab einem gewissen Punkt, sozusagen selbst?
Weil ich seit längerer Zeit in den Medien arbeite, glaube ich, sie einigermaßen zu durchschauen. Es gibt keine geheimenVerschwörungen, so wenig, wie es gezielte Kampagnen gegen einzelne Politiker gibt. Es stimmt, dass es einem manchmal so vorkommt – fast alle schreiben das Gleiche. Alle sind gegen Westerwelle und gegen Kernkraft, alle waren für Klinsmann. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen ungern allein dastehen. Sie möchten Erfolg haben und geliebt werden. Das gilt auch für Journalisten. Im Mainstream ist man sicher. Die meisten Medien spiegeln folglich den Mainstream wider und verstärken ihn dadurch noch, aber sie erschaffen ihn nicht.
Die Masse
Auf der Suche nach einer Antwort – was wird zum Mainstream? – landet man bei Gustave Le Bon, der 1895 den Klassiker »Psychologie der Massen« geschrieben hat. Le Bon war Arzt und Anthropologe, das Massenverhalten konnte er im Krieg von 1870/71 studieren, im belagerten Paris,
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