Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
aus unserer Schule mit »Aktion Sühnezeichen« nach Israel gefahren. »Aktion Sühnezeichen« beruhte auf der halb ehrenwerten, halb verrückten Idee, dass junge Deutsche im Ausland kostenlos manuelle Arbeiten verrichten und so für die Verbrechen ihrer Väter ein bisschen Buße tun. Wie sollte diese moralische Rechnung wohl funktionieren? Das Ganze fußt auf einem Konzept von Kollektivschuld, das mir heute schräg vorkommt. Man kann aus der Geschichte der Vorfahren Lehren ziehen, und man muss ihre Schulden bezahlen, in einem moralischen Sinn sühnen oder ungeschehen machen kann man gar nichts. Außerdem waren wir für manuelle Arbeit schlecht geeignet und haben aus Ungeschicklichkeit in aller Welt bestimmt eine Menge Schaden angerichtet.
Bei unseren Sühneerwägungen spielte allerdings auch die Tatsache eine Rolle, dass in Israel, falls unsere Informationen stimmten, fast immer die Sonne schien und es Strände gab ohne Ende.
Im Kibbuz Tel Yosef musterten sie mich kurz, prüften Talente und Neigungen, dann steckten sie mich in die Hühnerfarm. Drei Monate lang hieß es, in einer neonbeleuchteten Halle panisch um sich pickende Brathähnchen einzufangen und sie mit allmählich anschwellenden Händen in Kisten zu stopfen. Die Hühner pickten in ihrer Todesangst nämlich aufdie Hände, und die Hühnerscheiße sorgte dafür, dass sich die Wunden zu apokalyptischen Entzündungen auswuchsen. Handschuhe halfen nicht viel. Zur Erholung gab es manchmal Küchendienst. Ich dachte: Diese Hühnerscheiße hier hat mir nur Adolf Hitler eingebrockt. Auf diese Weise wurde ich ein noch leidenschaftlicherer Antifaschist.
Besonders renitenten Hähnchen drehten die Arbeiter schon gleich in der Halle den Hals um. So lernte ich auf meinem Sühnetrip das Töten und abends dann das Schießen. Auf den Wachgängen nahmen die Jungs aus dem Kibbuz nämlich hin und wieder ein paar von uns Helfern mit, und man durfte mal das Gewehr halten und abdrücken. Das gab hinterher immer Ärger, aber Ärger machte den Jungs nichts aus.
Das Dritte, was man im Kibbuz lernte, war Sozialismus.
Das Wort Kibbuz bedeutet »Gemeinschaft«. Ein Kibbuz ist ein Dorf, in dem allen alles gemeinsam gehört, in dem jeder das Gleiche verdient, in dem man gemeinsam isst, wo jeder abwechselnd jeden Job macht, wo man die Kinder im Kinderhaus erzieht statt in der Familie, und so weiter. Das volle Utopieprogramm.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts floss der Strom der jüdischen Einwanderer in das Gelobte Land kräftiger und immer kräftiger. Viele Einwanderer brachten in ihrem geistigen Gepäck den Sozialismus mit. Im Kibbuz verschmolz die Idee des Sozialismus mit der Idee des Zionismus. Die Kibbuzbewegung war, wenn man so will, ein israelisches Gegenstück zur Sowjetunion.
Zionismus bedeutete: das britische Palästina in den jüdischen Staat Israel zu verwandeln. Sozialismus bedeutete: den neuen Menschen zu schaffen, der sich vom Egoismus und von der Ausbeutung befreit hat. Die Siedler bauten Wehrdörferinmitten einer feindlich gesinnten Umgebung. Sie dienten gleichzeitig der Grenzsicherung und der Besiedelung entlegener Regionen und der Schaffung des neuen Menschen. Das Gemeinschaftshaus lag immer genau in der Mitte, aus geistigen und aus militärischen Gründen. Es gibt auch eine religiös orientierte Kibbuzorganisation, aber dazu gehören nur wenige Dörfer. Im Kibbuz leben sogar heute noch 120 000 Israelis, etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung. In der israelischen Elite ist der Anteil der ehemaligen Kibbuzkinder allerdings deutlich höher.
Damals gab es zwei Sorten von Sozialismus, die in Westdeutschland bei fast allen ein gutes Image hatten. Einerseits Jugoslawien. Jugoslawien galt als irgendwie demokratisch. Erst viel später hat man herausgefunden, dass Jugoslawien so toll nun auch wieder nicht war. Der andere gute Sozialismus war der Kibbuz. Gut, weil eingebettet in eine Demokratie. Gut, weil funktionierend. Denn die Kibbuzlandwirtschaft war eine Zeitlang erfolgreich, daran ließ sich nicht rütteln.
Man aß in Tel Yosef in der großen Speisehalle und konnte sich auch außerhalb der Mahlzeiten in der Küche jederzeit bedienen. Geld war im Kibbuz verboten. Im Laden zahlten wir mit Märkchen aus Pappe, die wir als Bezahlung kriegten. Manche Sachen gab es völlig umsonst, zum Beispiel Zucker. Jeder bekam fünf Päckchen Zigaretten pro Woche zu einem subventionierten Spottpreis, billiger als in der Stadt. Wer irgendwohin wollte, ließ sich von einem der
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