Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
auf dem Fußboden berührt.
Einen Moment lang behält der Junge diese respektvolle Stellung bei, dann erhebt er sich. Er achtet darauf, dass sein Blick nicht den Namen streift, der in leuchtendem Weiß auf die vordere Panzerschürze gestickt ist, als könnte das Lesen dieses Namens irgendwie seinen Vater herbeibeschwören und den mit Furcht getrübten Wunsch nach seiner Heimkehr allzu schnell wahr werden lassen.
Munisai Hirata.
Er gibt sich große Mühe, diesen Namen nicht zu lesen.
Kapitel 1
D ie Schlacht war geschlagen, Kazuteru aber lief immer noch. Er hatte eine Pflicht zu erfüllen. Der junge Samurai achtete nicht auf das Pfeifen in seiner Lunge und die Schmerzen in seinen Muskeln, sondern nur auf seine heilige Fracht: einen handlangen Dolch. Sein Herr erwartete ihn auf der Anhöhe vor ihm.
Es hatte den ganzen gestrigen Tag und auch einen Gutteil des Morgens geregnet – ungewöhnlich für den Hochsommer. Jetzt schien die Sonne, doch zu spät: Hunderte Füße und Hufe hatten den aufgeweichten Hang in einen Morast verwandelt. Kazuterus Rüstung und Untergewand, einst leuchtend blau, waren grau gesprenkelt, und seine Beine waren schwer von Lehm und Gras.
Einzig seine Hände, die in Fehde- und Panzerhandschuhen gesteckt hatten, waren noch sauber. Daraus befreit, waren sie rein genug, um den Dolch zu halten. Doch in der Schwüle schwitzte er unter all den Lagen aus Metall, Tuch und Holz, die er am Leibe trug. Der Schweiß brannte ihm in den Augen, er schmeckte ihn auf den Lippen, und als im Laufen plötzlich der Boden unter ihm nachgab, spürte er, wie feucht auch seine Hände waren. Seine schweißnassen Finger versuchten den Dolch noch festzuhalten, doch er entglitt ihm.
Im Fallen fing die Klinge das Licht ein und blitzte noch einmal kurz zu ihm hinauf. Dann versank sie mit einem leisen, traurigen Laut im Schlamm. Kazuteru entfuhr ein Laut, der noch leiser und trauriger war. Sein wartender Herr hatte zwar tausend Schwerter und Speere um sich versammelt, doch die genügten nicht. Es waren keine zeremoniellen Waffen, sie waren nicht rein. Der Dolch, der es gewesen war, war nun besudelt.
Kazuteru fiel auf die Knie und stieß die linke Hand tief in den Morast. Blind grub er darin herum, in verzweifelter Eile, gebremst aber von seiner Furcht vor der scharfen Schneide.
Zu seiner Rechten ertönte ein Stöhnen, eine schmerzerfüllte Stimme, so jämmerlich, dass Kazuteru innehielt. Er sah einen Samurai verrenkt daliegen, ein Bein derart zerschmettert und verdreht, dass die Fußspitze fast die Kniekehle berührte. Der Mann fand keine Worte mehr. Mit Blicken bat er Kazuteru, ihn zu töten, und einen Moment lang war er kurz davor, ihm den Gefallen zu tun.
Doch dann bemerkte Kazuteru, dass er das Rot des Feindes trug, und beachtete ihn nicht weiter. Dutzende litten hier die gleichen Todesqualen wie dieser Mann.
Hunderte.
Kazuterus Finger berührten stumpfes Metall. Er zog den Dolch hervor, Schlamm klebte daran. So gut es ging, wischte er die Klinge ab. Einmal, als er noch ein kleiner Junge gewesen war – zu jung, um zu wissen, was ein Sakrileg ist –, hatten seine Freunde und er eine kleine gusseiserne Buddhafigur im Futter eines Ochsen versteckt, nur um zu sehen, ob das Tier so dumm war, es nicht zu bemerken. Der Ochse bemerkte tatsächlich nichts, und drei Tage später fanden sie den Buddha wieder. Als Kazuteru nun den Dolch betrachtete, erinnerte ihn das an den Anblick jenes heiteren, mit Scheiße beschmierten Gesichts.
Wasser. Er brauchte Wasser.
Doch hier gab es keins, nur das Regenwasser im Schlamm des aufgeweichten Schlachtfelds. Er hatte keine Zeit, ins ferne Lager zurückzukehren, wohin er gerade erst gelaufen war, um den Dolch zu holen. Sein Weg führte nur den Hang hinauf, zu der Anhöhe, die sie vor kaum einer Stunde im Sturm genommen hatten.
Er lief weiter hügelan, kämpfte sich durch den Schlamm, hielt den Dolch in der beschmutzten Linken und die Rechte hoch erhoben, um sie vor jeder Verunreinigung zu bewahren. Vor ihm brannte Fürst Kannos Burg, die das gesamte Tal überblickte. Eines der kleineren geschwungenen Dächer fiel gerade lautstark ächzend in sich zusammen. Der Wind trug raue Jubelrufe herüber, und eine tiefschwarze Rauchwolke stieg in den Himmel.
Da sah Kazuteru im Augenwinkel einen übel zugerichteten Mann, der halb liegend an einer Bambusbarrikade lehnte. Er wirkte betrunken, wie er um sich tastete. Mit tauben Händen versuchte er, eine Feldflasche an die Lippen zu führen.
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