Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Luxemburg fühlte sich in der
ganzen Welt zu Hause, und sie wollte die Welt verändern.
Geboren wurde die temperamentvolle Frau am 5. März 1871 in dem kleinen Städtchen Zamość im Gouvernement Lublin in Polen, das
vom zaristischen Rußland besetzt war. Dieses Datum gab sie jedenfalls im Februar/März 1897 im Curriculum vitae, ihrem Lebenslauf
für das Promotionsverfahren an der Universität Zürich, an. 1 Sie erhob aber auch keine Einwände, wenn in anderen Dokumenten z. B. 1870 als Geburtsjahr oder der 25. Dezember als Geburtstag
vermerkt wurde, 2 denn ihr selbst war das nicht so wichtig. Daher lohnt sich kein Streit darüber, wenn die Biographen nach wie vor das Geburtsdatum
unterschiedlich angeben. Ihren Geburtstag feierte Rosa Luxemburg immer am 5. März; auch der Vater gratulierte ihr 1900 zum
5. März, obwohl er drei Jahre zuvor den »25. Dezember 1870« als Geburtstag seiner Tochter bezeugt hatte. 3
Rosa Luxemburg freute sich über jeden Glückwunsch und war für Überraschungen dankbar, vor allem für Blumen und |14| Bücher. Wenn allerdings allzuviel Wesen darum gemacht wurde, bezeichnete sie solche »historischen Daten« gleich als Lappalien.
In einem Brief an ihre holländische Freundin Henriette Roland Holst amüsierte sie sich 1907: »Ich danke Dir und Rik herzlich
für die Geburtstagskarte, über die ich gelacht habe: mein ›offizielles‹ Geburtsdatum ist nämlich falsch (ganz so alt bin ich
nicht!), ich habe doch, als anständiger Mensch, keinen echten Geburtsschein, sondern einen ›angeeigneten‹ und ›korrigierten‹.
Aber der Glückwunsch war ja echt …« 4
Rosa (Rosalie, Rosalia, Róża) Luxemburg kam auf die Welt, als in Europa der Feuerschein der Pariser Kommune leuchtete und
zwischen Deutschland und Frankreich der vorläufig letzte Krieg ausgetragen wurde. Durch die Bismarcksche Reichsgründung begann
neben dem Königreich Großbritannien, dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn unter Kaiser Franz Josef I. und dem russischen
Zarenreich unter Alexander II. eine neue Großmacht zu entstehen. Sie sollte nicht nur durch den besonders reaktionären preußischen
Militarismus und durch Rüstungswettlauf mit den europäischen Großmächten, sondern auch infolge wachsender Herrschaftsansprüche
eines erstarkenden Industrie- und Finanzkapitals weit über Europa hinaus die Gefahr neuer kriegerischer Konflikte steigern.
Als Gegenkraft entwickelten sich in vielen europäischen Ländern Organisationen der Arbeiterbewegung, die für die Durchsetzung
antimilitaristischer Forderungen stritten, soziale und politische Rechte erkämpften und Bilder von einem Zukunftsstaat entwarfen,
der freiheitlich, demokratisch, friedliebend und sozialistisch sein sollte.
Polen litt seit einem Jahrhundert unter der Teilung und unter der Fremdherrschaft Rußlands, Österreich-Ungarns und Preußens.
Auch hier fanden tiefgreifende ökonomische und soziale Veränderungen statt. »Die ganze äußere Erscheinung des Landes hat sich
in 25 Jahren von Grund aus verändert«, stellte Rosa Luxemburg 1897 in ihrer Dissertationsschrift fest. »In der Mitte wuchs
das kleine Städtchen
Łódź
rasch zu einem großen Textilindustriezentrum, zum ›polnischen Manchester‹, auf mit dem typischen Aussehen einer modernen Fabrikstadt
[…]. Man findet hier eine Reihe Riesenetablissements, unter denen die Manufaktur Scheibler mit ihren 15 Mill. jährlicher Produktion |15| und 7000 Arbeitern den ersten Platz behauptet. Im südwestlichen Winkel des Landes, an der preußischen Grenze, schoß, wie aus
der Erde hervorgezaubert, ein ganzer neuer Industrierayon auf, wobei Fabriken inmitten von Wald und Flur auftauchten, der
Bildung von Städten vorausgehend und von vornherein alles um sich gruppierend. In der alten Hauptstadt Warschau, dem Sammelpunkt
aller Handwerke, hob sich das Handwerk mächtig empor. Zugleich fällt es aber vielfach unter die Herrschaft des Kaufmannskapitals.
Kleine und mittlere selbständige Betriebe lösen sich in Hausindustrie auf, und in den Vordergrund treten als Sammelbecken
für die Kleinproduktion große Magazine fertiger Handwerkswaren. Der Handel des ganzen Landes konzentriert sich auf der Börse
und in zahlreichen Bank- und Kommissionsgeschäften. Die Vorstadt von Warschau, Praga, wurde zum Zentrum einer großen Metallindustrie,
und die riesige Leinwandfabrik Zyrardów bei Warschau mit ihren 8000 Arbeitern verwandelte sich in ein eigenes Städtchen.
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