Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Handschrift Rosa Luxemburgs entdeckt. 28 Rosa Luxemburg verstand Jiddisch, betrachtete jedoch diese Sprache als Jargon und gebrauchte sie relativ selten, und dann
zumeist als Schimpfwort oder zur Selbstironie. Józef-Szloma Mil (John Mill), der Rosa gut kannte, behauptet sogar, sie hätte
Jiddisch gehaßt. 29 Zur polnischen Sprache, die sie liebte, hatte sie eine ungewöhnlich emotionale Beziehung.
Rosa Luxemburg wuchs in einem behaglichen Familienkreis auf, in dem vorwiegend polnisch gesprochen wurde und großes Interesse
an anderen Sprachen, Religionen und Kulturen geweckt und gefördert wurde. Die Familie verstand Deutsch und las auch deutsche
Literatur. Trotz strenger Zensur besorgte der freisinnige Vater, die Respektsperson der Familie, insgeheim ausländische Zeitungen,
die gelesen und besprochen wurden. 30 Jedes Kind konnte seinen Neigungen nachgehen und sich nach Herzenslust ausleben. »Ich erinnerte mich gestern«, schrieb Rosa
Luxemburg 1907, »daß ich einmal zu Hause als Kind partout sehen wollte, wie eine Rosenknospe sich entfaltet, und stand einen
ganzen Tag am Blumentopf, unverwandt die Knospe betrachtend. Natürlich rührte sie sich nicht, und ich mußte verdrossen schlafen
gehen. Am anderen Morgen fand ich sie schon entfaltet. […] Noch eine Erinnerung kam plötzlich, ich weiß nicht, wie: von einem
Schirm, den ich im Schnee zerbrach, und da mußte ich viel lachen.« 31 Ein Kind wie jedes andere, begann Rosa Luxemburg ihr Leben froh und heiter.
In ihren Erinnerungen verklärten sich die Kindheitserlebnisse mitunter, in einem Brief an Luise Kautsky sind sie sogar zu
Literatur geworden: »Damals zu Hause schlich ich mich in der frühesten Morgenstunde ans Fenster – es war ja streng verboten,
vor dem Vater aufzustehen –, öffnete es leise und spähte hinaus in den großen Hof. Da war freilich nicht viel zu sehen. Alles
schlief noch, eine Katze strich auf weichen Sohlen über |24| den Hof, ein paar Spatzen balgten sich mit frechem Gezwitscher, und der lange Antoni in seinem kurzen Schafpelz, den er Sommer
und Winter trug, stand an der Pumpe, beide Hände und Kinn auf den Stiel seines Besens gestützt, tiefes Nachdenken im verschlafenen,
ungewaschenen Gesicht. Dieser Antoni war nämlich ein Mensch von höheren Neigungen. Jeden Abend nach Torschluß saß er im Hausflur
auf seiner Schlafbank und buchstabierte laut im Zwielicht der Laterne die offiziellen ›Polizeinachrichten‹, daß es sich im
ganzen Hause wie eine dumpfe Litanei anhörte. Und dabei leitete ihn nur das reine Interesse für Literatur, denn er verstand
kein Wort und liebte nur die Buchstaben an und für sich. Trotzdem war er nicht leicht zu befriedigen. Und als ich ihm einmal
auf seine Bitte um Lektüre Lubbocks ›Anfänge der Zivilisation‹ gab, die ich gerade als mein erstes ›ernstes‹ Buch mit heißer
Mühe durchgenommen hatte, da retournierte er es mir nach zwei Tagen mit der Erklärung, das Buch sei ›nichts wert‹. Ich meinerseits
bin erst mehrere Jahre später dahintergekommen, wie recht Antoni hatte. – Also Antoni stand immer erst einige Zeit in tiefes
Grübeln versunken, aus dem er unvermittelt zu einem erschütternden, krachenden, weithallenden Gähnen ausholte, und dieses
befreiende Gähnen bedeutete jedesmal: Nun geht’s an die Arbeit. Ich höre jetzt noch den schlürfenden, klatschenden Ton, womit
Antoni seinen nassen, schiefgedrückten Besen über die Pflastersteine führte und dabei, immer ästhetisch, am Rande sorgfältig
zierliche, ebenmäßige Bogen beschrieb, die sich wie eine Brüsseler Spitzenborte ausnehmen mochten. Sein Hofkehren, das war
ein Dichten. Und das war auch der schönste Augenblick, bevor noch das öde, lärmende, klopfende, hämmernde Leben der großen
Mietskaserne erwachte. Es lag eine weihevolle Stille der Morgenstunde über der Trivialität des Pflasters; oben in den Fensterscheiben
glitzerte das Frühgold der jungen Sonne, und ganz oben schwammen rosig angehauchte duftige Wölklein, bevor sie im grauen Großstadthimmel
zerflossen. Damals glaubte ich fest, daß das ›Leben‹, das ›richtige‹ Leben, irgendwo weit ist, dort über die Dächer hinweg.
Seitdem reise ich ihm nach. Aber es versteckt sich immer hinter irgendwelchen Dächern. Am Ende war alles ein frevelhaftes
Spiel mit mir, und das wirkliche Leben ist gerade dort |25| im Hofe geblieben, wo wir mit Antoni die ›Anfänge der Zivilisation‹ zum ersten Male lasen?«
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