Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Zlotastraße 16 lag inmitten eines kurzen Blocks, der zwei Straßen verband, die Brackastraße und die
große Durchgangsstraße Marszalkowska. Die Zlotastraße überquerte die Marszalkowska und wurde auf ihrer Fortsetzung nach Westen
ärmlicher, aber der kurze Abschnitt, in dem die Luksenburgs wohnten, war eine gute Gegend. Über die Brackastraße hatte Jahrzehnte
zuvor der tägliche Weg des russischen Großherzogs Konstantin geführt, des Oberkommandierenden der polnischen Armee. Hoch zu
Roß hatte er sich von seiner Residenz im Schloß Belvedere zu den berüchtigten, demütigenden Inspektionen seiner polnischen
Untergebenen auf den Saskiplatz begeben. Der eine unbestreitbare Vorteil der großherzoglichen Ausritte über die Brackastraße
war, daß man die Straßenfläche mit solidem Stein gepflastert hatte. In der Marszalkowskastraße herrschte geschäftiges Treiben.
Nach neuester Pariser Mode gekleidete Damen, Ladengeschäfte mit reichem Angebot an Importwaren, Cafés, Restaurants und Buchhandlungen
gaben der Metropole einen Hauch von europäischem Schick. Sie war multinational, vielsprachig, lebendig und bunt. Schnittige
Pferdekutschen brachten die eleganten Damen zu ihren karitativen Aufgaben und die Herren zu intimen Diners; glitzernde russische
Uniformen mengten sich unter priesterliche Soutanen und die Schulschürzen kleiner Mädchen; Stutzer und Nonnen, Chassidim mit
breitkrempigen Filzhüten und Laufburschen mit leuchtend roten Mützen, Gouvernanten in dunklen Capes und Straßenmusikanten,
sie alle unter dem wachsamen Blick schnauzbärtiger russischer Polizisten, gaben der Straße eine Aura des Glanzes. Gleich außerhalb
des Stadtzentrums bot sich ein drastisch verwandeltes Bild.« 24
Die Eltern und Geschwister Rosa Luxemburgs standen der |22| Assimilation wohlwollend gegenüber und hatten sich kulturell stärker angepaßt als die meisten osteuropäischen Juden. 25 Sie verleugneten aber keineswegs ihre jüdische Identität. Der Vater war ein Pole mosaischen Glaubens, auf den nach Jack Jacobs
die Beschreibung von Ezra Mendelsohn weitgehend zuträfe: »Die ›Polen mosaischen Glaubens‹ waren weniger geneigt, eine Ideologie
ihrer Assimilation zu finden. Sie verkündeten nicht, daß die jüdische Geschichte am Ende sei, auch identifizierten sie sich
nicht ständig mit Polens heiligem Kampf. Sie hatten die Grenzen des Ghettos hinter sich gelassen und betrachteten sich jetzt
als Polen, genau wie sich ihre deutschen Glaubensgenossen als Deutsche betrachteten. Sie wehrten sich energisch gegen den
jüdischen Nationalismus und verhielten sich feindselig gegenüber der jiddischen Sprache, sie hatten kein klares Programm für
die Zukunft des jüdischen Volkes. Nichtsdestoweniger spielten die ›Polen mosaischen Glaubens‹ eine bedeutende Rolle im jüdischen
Leben. Man konnte sie sowohl im Kongreß-Polen als auch in Galizien finden, in wichtigen Funktionen der offiziellen jüdischen
Gemeinde, wo sie mit den Orthodoxen zusammenarbeiteten und die Juden gegenüber den nichtjüdischen Behörden vertraten. Sie
unterstützten die jüdisch-polnische Presse, die seit den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts den Kampf für die jüdische
Aufklärung und die Polonisierung der polnischen Juden führte.« 26 Fast sicher sei, Eduard Luxemburg lehrte seine Kinder, »daß die Barrieren zwischen Polen und Juden aufgehoben werden sollten,
daß die Kultur der Familie Luksenburg die polnische Kultur sei, daß die westeuropäischen Bräuche kultivierter seien als die
des osteuropäischen Judentums […] und daß die Juden eine religiöse Gruppe seien und nicht eine Nation oder Nationalität. Er
kann auch Skepsis gegenüber dem Wunsch nach polnischer Unabhängigkeit geäußert haben.« 27
Die Mutter sympathisierte ebenfalls mit den Ideen der Maskilim. Ihr Bruder war seit 1862 Prediger einer nichtorthodoxen Gemeinde
in Lemberg. Sie war allerdings streng religiös. Sie gestaltete die jüdischen Feiertage, achtete auf die Pflege jüdischer religiöser
Traditionen und bereitete die speziellen Speisen. Zum Neujahrstag durften z. B. Blintzes nicht fehlen. |23| Die siebentägige Totenwache einzuhalten war für die Familie ebenso selbstverständlich, wie am Ende der Trauerzeit Kaddisch
zu singen.
An Rosa soll die Mutter jiddisch geschrieben haben; es konnte bis jetzt allerdings kein solcher Brief aufgefunden werden.
Auch hat bisher noch kein Luxemburgforscher eine jiddische
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