Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken
August
4. Tag
Das Chaos nimmt seinen Lauf.
Am Anfang ist alles ganz entspannt. Beim morgendlichen Wecklied liegt Stephanie noch in ihrer Koje. Zum Frühstück bleibt sie bei uns und bei der Bibelarbeit hält sie die Klappe.
Aber als wir zur Wäscheleine hinter unserer Hütte kommen und vor dem Schwimmen unsere Badesachen holen wollen, sind sie allesamt verschwunden.
Die von Stephanie hängen als einzige noch da.
»Sie ist zwar fies, aber nicht besonders clever«, sage ich zu Casey. »Da muss das Baden für sie wohl heute ausfallen! Und für den Rest der Zeit im Camp auch.«
Ich stürme quer durch die Hütte auf Stephanie zu, die sich schon einen anderen Badeanzug angezogen hat, aber Casey legt mir die Hand auf den Arm und hält mich zurück.
»Heute ist Unterwäsche-Tag!«, ruft sie aufgeräumt. »Heute gehen alle in T-Shirt und Unterhose baden.«
Schlagartig hören die Kinder auf zu jammern und benehmen sich, als ob Baden in Unterwäsche der tollste Spaà der Welt wäre. Sie schnattern, kreischen und lachen darüber, wie sich ihre T-Shirts im Wasser aufblähen.
Durchaus zufrieden registriere ich Stephanies Schmollgesicht, weil sie sich nicht genügend beachtet fühlt. Aber das verfliegt sofort, als Casey sie in die Gruppe einbezieht und sie auffordert, mit den anderen zu spielen. Am Ende hat sie sogar noch richtig Spaà dabei.
Und mir bleibt nichts anderes übrig, als auch in Unterwäsche schwimmen zu gehen.
Die Gruppe aus Hütte Nr. 6 findet dann bei einer Wanderung unsere Badesachen. Sie treiben im Sumpf, liegen auf Seerosen oder hängen an Rohrkolben.
»Das ist ein ganz mieses Balg«, sage ich zu Casey. »Du siehst sie viel zu positiv. Wir müssen uns echt was einfallen lassen, ansonsten mischt sie uns das ganze Camp auf.«
»Sie war doch den ganzen Tag hier«, meint Casey. »Sie muss früh ganz zeitig aus der Hütte geschlichen sein und die Sachen von der Leine genommen haben. Dann ist sie damit wahrscheinlich zum Sumpf gerannt. Aber ich bin schon seit halb sechs wach. Seitdem war sie die ganze Zeit in ihrem Bett.«
Casey steht immer ganz früh auf, weil sie für ihre Fernkurse zu tun hat, die sie über Sommer macht, damit sie für Australien vier Monate freibekommen kann.
»Also war es da noch dunkel«, sagt Casey. »Stephanie ist schon ziemlich mutig für ihr Alter.«
»So mutig wie Jack the Ripper«, murmele ich, aber Casey hört es nicht. Sie macht aus der ganzen Sache einfach eine Sumpfexpedition, watet mit den Mädchen umher, bestimmt mit ihnen sämtliche Pflanzen, auf denen ein Badeanzug gelandet ist, zeigt ihnen die Wasserläufer und die leeren Larvenkokons der Gottesanbeterinnen.
Die Kids finden es super.
Selbst Stephanie.
»Kann ich deine Haarspange mal ausprobieren?«, fragt sie Casey in zuckersüÃem Tonfall.
Casey legt nicht besonders viel Wert auf ihre Kleidung. Aber die Haarspange ist ihr heilig, denn die hat ihr Vater selber gemacht, als er nach seinem Unfall zur Reha war. Er hat die Zeichnung einer Gottesanbeterin hineingraviert.
Aber noch ehe Casey dazu kommt, Nein zu sagen, langt Stephanie nach der Spange und zerrt daran herum.
Casey wirft ihren Kopf zurück, doch Stephanie lässt nicht los und reiÃt sie ihr vom Kopf. Ein paar von Caseys Haaren bleiben darin hängen.
»Aua!«, schreit Casey. »Das tut doch weh! Was ist denn das für eine Art?« Sie versucht sich die Spange zurückzuholen, aber Stephanie rennt lachend damit weg.
Ich nehme die Verfolgung auf. SchlieÃlich bin ich eine gute Läuferin und Stephanie ist nur eine planlose, kichernde Göre. Mühelos hole ich sie ein und nehme ihr die Spange ab. Sie wehrt sich kaum dagegen. Aber als ich Casey ihr Eigentum zurückgebe, wirft sie mir vernichtende Blicke zu.
Stephanie hat es momentan auf Casey abgesehen.
Und Casey begreift allmählich, dass ich recht habe.
Am nächsten Tag in der Geschichtsstunde, während Mr Cloutier sich endlos über die Geschichte der Gewerkschaften auslieÃ, öffnete ich Caseys Brief. In dem Umschlag steckte ein Briefbogen, auf dem oben Foxfire Youth Detention Center aufgedruckt war. Jugendstrafanstalt also.
Ich kenne alle ihre Briefe auswendig â sie haben sich Wort für Wort in mein Hirn gebrannt. In diesem hier stand:
Liebe Libelle,
wer hätte gedacht, dass dieser Sommer so enden würde? Ich würde am
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