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Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken

Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken

Titel: Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Ellis
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überhängenden Äste die schmale Straße vor mir noch finsterer. Oben am Abhang hielt ich nicht an, so wie Casey und ich es sonst immer getan hatten. Ich trat immer weiter in die Pedale, die ganze rasende Fahrt nach unten, obwohl meine Beine mit dem Tempo kaum mithalten konnten. Ich stürzte auf einen Abgrund zu – auf einen finsteren Schacht, der ebenso gut das Ende der Welt hätte sein können. Ich wünschte mir, dass die Finsternis mich verschluckte, mich aus dieser Stadt befreite und von dem Durcheinander in meinem Kopf.
    Aber das passierte nicht, sondern ich verpasste die Kurve und landete auf der Straße zwischen Dreck und Kies. Es war ein dummer Unfall. Das Schicksal besaß nicht mal die Gnade, mich in Ohnmacht fallen zu lassen. Es tat einfach nur höllisch weh, der Schreck saß mir in den Knochen, und peinlich war es außerdem – obwohl kein Mensch in der Nähe war, der mich hätte sehen können.
    Offenbar war nichts gebrochen, aber in meinem Gesicht brannten die Schürfwunden, die ich mir auf dem Kies geholt hatte. Ich tastete nach meinem Fahrrad, und wie durch ein Wunder schien es ebenfalls den Sturz überlebt zu haben – obwohl bei Tageslicht betrachtet sicher doch etliche Spuren erkennbar waren. Ich beschloss, mich von dem Zwischenfall nicht beeindrucken zu lassen, stieg wieder auf und fuhr den restlichen Weg bis zum Campgelände.
    Bei den langen Hüttenreihen stieg ich ab und lehnte mein Rad an Hütte 3, wo ich während der letzten Wochen des Sommercamps geschlafen hatte. Ich rüttelte an der Tür, aber natürlich war abgeschlossen.
    Dann ging ich – von meinem Sturz etwas humpelnd – zum Speisesaal. Direkt gegenüber standen zehn Weidenbäume im Kreis, alt und würdevoll. Ihr Laub war dicht und hing so tief, dass man das Innere des Kreises wie durch einen Perlenvorhang betrat. Man musste die Zweige mit den Händen beiseiteschieben, wenn man hindurchwollte. Man konnte aber auch die Augen schließen und einfach hineingehen, wobei einem die Blätter über das Gesicht strichen wie lange Federschnüre.
    Im Innern des Kreises stehen steinerne Bänke, ebenfalls im Kreis, und von dort schaut man auf ein Blumengärtchen. In der Dunkelheit konnte ich die Blumen nicht erkennen, aber ich wusste, dass die Stiefmütterchen noch blühten und die Ringelblumen noch golden leuchteten.
    Inmitten der Blumen liegt ein großes Stück Treibholz, das mal jemand aus dem Fluss am Rande des Camps gezogen hatte. Es ist so knorrig, dass es fast schon aussieht, als wäre es aus einem Seil gemacht. Darauf ist ein Schild angebracht, in das ein Vers aus Psalm 137 eingraviert ist.
    Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande.
    Denn die uns gefangen hielten, hießen uns dort singen
    und in unserem Heulen fröhlich sein.
    Ich kannte das Schild schon seit so vielen Jahren, dass ich es auswendig konnte, so wie meine Adresse oder die Zahlenkombination von meinem Spindschloss.
    Den Text konnte ich zwar aufsagen, doch ich verstand ihn nicht, und die Bedeutung interessierte mich eigentlich auch nicht besonders.
    Ich saß lange auf einer von den Bänken und lauschte den Weiden, wie sie miteinander flüsterten. Ich saß da, bis sich der Schweiß auf meinem Körper eiskalt anfühlte und meine Beine sich in der kalten Nachtluft verkrampften. Um mich aufzuwärmen, joggte ich in ruhigem Tempo zurück zu Hütte 3. Ich setzte mich auf mein Rad und machte mich auf den Heimweg.
    Der Hang war jetzt nicht mehr so finster. Offenbar war es schon kurz vor Tagesanbruch. Ich musste mich ziemlich beeilen, um zu Hause anzukommen, bevor Mom aufwachte. Es gelang mir nur knapp.
    Mein Gesicht hatte ich dabei ganz vergessen. Beim Frühstück erkundigte sich Mom, wo die Kratzer und Schürfwunden herkamen. Ich erzählte ihr, dass ich frühmorgens joggen gegangen und auf einer kiesigen Stelle ausgerutscht war. Sie sagte, dass sie es gut fand, dass ich so fleißig war, was sie allerdings gleich wieder kaputt machen musste, indem sie fragte, warum ich nicht immer so sein konnte. Ich fauchte sie an, sie fauchte zurück und letztendlich schrien wir uns gegenseitig an.
    Dieser Tag hatte eigentlich nur ein Gutes. Als ich in der Pause zur Toilette ging, sah ich mich im Spiegel. Mein Gesicht war genauso zerschrammt wie das von Casey. Jetzt sahen wir einander ähnlich. Seltsamerweise ging es mir damit besser.

Kapitel 8
    25.

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