Rosendorn
ausziehen wolle. Ich meinte, da ich wie Ethan aufs College ginge, solle ich wie er auch meine eigene Wohnung haben.« Tränen schimmerten in ihren Augen, und ihre Stimme klang so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war. »Er sagte: ›Okay.‹«
Mitfühlend zuckte ich zusammen. »Dein Dad muss ziemlich begriffsstutzig gewesen sein, wenn er nicht gemerkt hat, dass er eigentlich hätte nein sagen sollen.«
Sie lachte und blinzelte ihre Tränen fort. »Mein Dad mag vieles sein, aber begriffsstutzig ist er nicht. Er wusste, was ich wollte – es war ihm einfach egal.« Sie holte tief Luft und straffte die Schultern. »Eigentlich macht es auch gar keinen großen Unterschied. Er ist ein totaler Workaholic, also ist er sowieso nie daheim. Ich sehe ihn jetzt nicht seltener als zu der Zeit, als ich noch zu Hause gewohnt habe.«
Vielleicht war meine Mom doch nicht so schlimm. An ihrem peinlichen, nachlässigen und absolut dummen Verhalten war der Alkohol schuld. Ich wusste, dass sich irgendwo, hinter der Säuferfassade, eine liebende Mutter verbarg. Kimber hatte nicht einmal das.
»Ich glaube, dass dein Vater
sehr wohl
begriffsstutzig ist«, erklärte ich Kimber. »Er muss es sein, wenn er nicht kapiert, wie viel Glück er hat, dich zu haben.«
Sie errötete zart. »Danke. Aber du musst nicht versuchen, mich aufzumuntern. Ich … komme schon damit klar.«
Ja, genau, dachte ich, schwieg jedoch.
»Macht es dir etwas aus, wenn ich
dich
etwas frage?«, wollte Kimber wissen.
»Nach all den Fragen, die ich dir gestellt habe, bist du jetzt dran.«
»Warum bist du von zu Hause abgehauen?«
Ich verzog das Gesicht. Wieso musste es ausgerechnet
diese
Frage sein? »Oje, weiß eigentlich
jeder,
dass ich weggelaufen bin?«, entgegnete ich und versuchte, das Thema zu umgehen. Ich hatte noch nie jemandem erzählt, dass meine Mutter eine Alkoholikerin war – tatsächlich hatte ich große Anstrengungen unternommen, damit niemand es herausfand –, und ich hatte nicht vor, jetzt etwas daran zu ändern.
Kimber zog einen Mundwinkel leicht in die Höhe. »Die Tatsache, dass du nie Interesse daran gezeigt hast, daheim anzurufen und um Hilfe zu bitten, war schon ein Zeichen, aber bis jetzt wusste ich es nicht mit Sicherheit.«
»Oh.« Ich wandte meinen Blick von dem wissenden Ausdruck in ihren Augen ab. »Ich will nicht darüber reden, ja?«
»Okay«, erwiderte Kimber, doch ich konnte sehen, dass ich ihre Gefühle verletzt hatte, weil ich unser Gespräch so abrupt abwürgte. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich glaube, ich bekomme gerade wieder Kohldampf.«
Sie sprang auf. Ohne groß darüber nachzudenken, streckte ich den Arm aus und packte ihr Handgelenk, um sie an der Flucht aus dem Zimmer zu hindern. Nachdem sie mir gegenüber ihr Herz gerade so weit geöffnet hatte, wäre es unfair von mir gewesen, sie auszuschließen. Ich würde in den sauren Apfel beißen und über das Thema sprechen müssen, über das ich am allerwenigsten sprechen wollte.
»Setz dich«, sagte ich zu ihr und zog etwas an ihrem Arm. »Es tut mir leid. Es ist nur …«
Ich ließ ihr Handgelenk los, und Kimber nahm wieder auf dem Bett Platz. »Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst«, sagte sie behutsam. »Du kennst mich noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Ich sollte nicht erwarten, dass du mich wie deine allerbeste Freundin behandelst.«
»Ist schon gut – es waren immerhin sehr intensive vierundzwanzig Stunden.«
Sie lachte leicht. »Das kann man wohl sagen.«
Ich atmete tief durch. Mein Herz klopfte fast so heftig wie in dem Moment, als ich mich im Wandschrank versteckt hatte, und meine Schultermuskulatur war so angespannt, dass es weh tat. Aber ich wusste, dass ich überreagierte. Kimber sah vielleicht aus wie die zickige, allseits beliebte Cheerleaderin, die über mich lachen würde, wenn sie von meiner Mom erfuhr, doch sie verhielt sich nicht so. Und im Übrigen gab es hier keine Schule voll anderer Kinder, denen sie die Neuigkeiten gleich weitertratschen konnte.
Ich richtete mich auf Schock oder Mitleid oder Abscheu ein und presste mein beschämendes Geheimnis zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Meine Mutter ist Alkoholikerin.« So. Ich hatte es ausgesprochen. Laut.
Kimber saß nur da und wartete darauf, dass ich fortfuhr. »Und?«, sagte sie, als ich nicht weiterredete.
Ich starrte sie an. »Muss denn noch mehr kommen?«
Sie blinzelte. »Tja … nein. Ich denke, nicht. Du hast dich nur so geziert, dass
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