Rosendorn
ich gedacht habe, es müsste ein furchtbares, dunkles Geheimnis sein – zum Beispiel, dass sie einen Freund hatte, der dich missbraucht hat oder so.«
Was auch immer ich erwartet hatte, diese Reaktion gehörte nicht dazu. »Also hältst du es für keine große Sache, dass meine Mutter trinkt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Sicher ist es für dich von Bedeutung. Du musst schließlich mit ihr zusammenleben. Es ist nur … Ich weiß nicht. Es ist keine ›Haltet die Druckpressen an!‹-, ›Alarmstufe rot!‹-, ›Achtung: Gefahr, Will Robinson!‹-Sache.«
»›Achtung: Gefahr, Will Robinson‹?«
»Du weißt schon, die berühmte Warnung aus
Lost in Space.
«
Ich hob ahnungslos die Schultern und sah sie fragend an.
Kimber setzte eine gespielt entgeisterte Miene auf. »Das ist ein Klassiker! Aber wie dem auch sei, der Punkt ist, dass eine trinkende Mutter auf einer Liste der schockierenden Neuigkeiten nicht besonders weit oben steht.«
Es ist komisch, doch ich hatte befürchtet, dass sie auf mich herabsehen könnte, wenn sie es erfuhr – und ich war froh, dass sie es nicht tat. Aber es war so ein Gegensatz zu dem, was ich erwartet hatte, dass ich fast ein wenig enttäuscht war. Ich meine, da hatte ich mich durchgerungen und ihr dieses furchtbare Geheimnis erzählt, das ich noch niemandem zuvor anvertraut hatte … und was machte sie – »Gähn.«
»Die Kids in meiner letzten Schule hielten es für ziemlich schockierend«, widersprach ich. »Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht, als sie es herausfanden.«
Sie winkte ab. »Ja, allerdings waren das Kids.«
Ȁh, Blitzmeldung:
Wir
sind das auch.«
»Aber wir sind keine normalen Jugendlichen«, entgegnete sie, und ihre Worte trafen mich wie ein Tritt in den Magen. »Ich bin eine sechzehnjährige Collegeschülerin im zweiten Jahr, die allein lebt, und du bist ein Faeriewalker. ›Normal‹ trifft auf uns ganz sicher nicht zu.«
Die Wahrheit hinter ihren Worten war nicht abzustreiten, obwohl ich mich eine ganze Weile dagegen gesträubt hatte. Ich hatte immer versucht, unter den gegebenen Umständen so normal wie möglich zu sein, und ich hatte immer gewusst, dass ich dabei kläglich gescheitert war. Ich hatte es nur nicht zugeben wollen.
»Hey, wenigstens können wir jetzt zusammen unnormal sein«, sagte Kimber, und ich musste lächeln.
»Wer braucht schon ›normal‹?«, erwiderte ich. »›Normal‹ ist langweilig.«
Und zumindest in dem Moment meinte ich es tatsächlich so.
Kimber und ich sprangen auf, als wir das unverwechselbare Geräusch der Eingangstür hörten, die geöffnet und wieder geschlossen wurde. Kurz darauf erklangen Schritte, die aus Richtung der Küche kamen.
»Ich bin es nur«, rief Ethan, bevor wir uns ernsthafte Sorgen machten.
Er tauchte in der Tür zum Schlafzimmer auf und hatte ein freches Lächeln auf den Lippen. Mein Herz machte bei seinem Anblick einen kleinen Hüpfer.
»Du siehst wahnsinnig selbstzufrieden aus«, sagte Kimber und schlug wieder diesen säuerlichen Tonfall an, den ich zu Anfang für ihre normale und einzige Stimmung gehalten hatte.
Sein Grinsen wurde breiter. »Ich bin ganz schön brillant, wenn ich das mal so sagen darf.«
»Was du ziemlich häufig tust.«
Der Spott schien ihn nicht zu beeindrucken. »Nachdem ich heute Nachmittag Besuch von Grace hatte, wusste ich, dass jemand uns beide im Auge behalten würde«, sagte er.
»Wow, echt beeindruckend scharfsinnige Schlussfolgerung.«
Ethan schürzte übertrieben die Lippen. »Du verdirbst mir die Geschichte.« Ich konnte an ihrem Gesicht ablesen, wie untröstlich Kimber darüber war, doch sie widerstand dem Drang, eine weitere spöttische Bemerkung zu machen.
»Ich habe mir gedacht, dass es hinderlich für uns sein könnte, ständig beobachtet zu werden. Also habe ich es geschafft, meinen Verfolger abzuhängen, und bin dann direkt hierhergekommen.« Er sah Kimber erwartungsvoll an, aber sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht in der Stimmung, deinen Stichwortgeber zu spielen.«
Er warf mir denselben erwartungsvollen Blick zu, und mein Herz machte wieder einen dieser seltsamen Hüpfer. Ich konnte ihm auf keinen Fall verweigern, was er wollte – nicht, wenn er mich
so
ansah.
»Und wie bist du deinen Verfolger losgeworden?«, fragte ich und hoffte, dass ich nicht atemlos klang.
Mit stolzgeschwellter Brust sah er uns an. »Ich habe endlich den Unsichtbarkeitszauber fertiggebracht.«
»Der Zauberspruch, den du benutzt hast, um dich
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