Rosendorn
dabei nur zweimal ab – das war übersichtlich genug, dass selbst
ich
die berechtigte Chance hatte, aus dem Tunnel zu finden.
Irgendwann hielten wir mitten in einer der unterirdischen Röhren an, die aussah wie jeder andere verlassene Gang, den ich bis jetzt gesehen hatte. Ich blickte in beide Richtungen, konnte an diesem Ort jedoch nichts Ungewöhnliches erkennen.
Ethan murmelte etwas. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich schwören können, dass er »Sesam, öffne dich!« gesagt hatte. Aber das mochte auch an den verwirrenden Echos gelegen haben.
Im nächsten Moment erschien aus dem Nichts eine türähnliche Öffnung in der Wand. Ich blinzelte verstört.
»Es ist ein Illusionszauber«, erklärte Ethan mit einer Spur Stolz in der Stimme. »Niemand, der den Tunnel entlanggeht, würde auf die Idee kommen, dass hier eine Tür ist.«
Mit einer ausholenden, feierlichen Handbewegung winkte er mich durch die Öffnung. Vorsichtig trat ich durch den Einstieg, an dessen Stelle einen Augenblick zuvor noch eine scheinbar massive Wand gewesen war. Ich rechnete fast damit, dass diese wieder auftauchen würde, während ich noch nicht ganz durch die Öffnung hindurch war, doch alles ging gut.
Beim Anblick des Raumes hinter der imaginären Wand machte ich nicht gerade vor Freude einen Luftsprung. Er hatte die Größe von Kimbers Schlafzimmer, und die einzigen Möbel waren zwei Feldbetten, ein einfacher Kartentisch und zwei Klappstühle – es sei denn, man zählte den großen Überseekoffer in der Ecke ebenfalls mit dazu. Abgesehen davon befanden sich noch eine Petroleumlampe auf dem Tisch sowie je ein Keramiktopf unter jeder Pritsche.
»Sag nicht, dass das Nachttöpfe sind!«, brachte ich hervor, als Ethan die Lampe anmachte.
Er warf mir über die Schulter hinweg ein verlegenes Lächeln zu. »Das hier ist nur vorübergehend«, versprach er. »Wie du gesehen hast, gibt es im Untergrund Orte mit Elektrizität und fließend Wasser, aber die sind auch nicht so gut versteckt.«
»Was
ist
das hier für ein Ort?«, fragte ich.
Ethan hatte die Lampe entzündet und schaltete seine Taschenlampe aus. »Der
Untergrund
unterstützt – unter anderem – Leute, die bestimmte, äh, politische Probleme haben. Manchmal brauchen sie einen Platz, an dem sie sich eine Weile verstecken können. Es ist vielleicht nicht luxuriös, doch nichts und niemand wird dich hier unten finden.«
Meine Augen begannen zu brennen, und ich biss mir heftig auf die Unterlippe, um sie am Zittern zu hindern. Dieser kleine Unterschlupf hätte in einem historischen Film durchaus als Verlies durchgehen können. Die Trostlosigkeit des Ortes machte mir die Trostlosigkeit meiner Situation noch einmal unerbittlich klar. Bisher war ich mit Stress immer so umgegangen, dass ich meine Reaktion verschoben hatte, bis die Krise ausgestanden war. Aber seit ich in Avalon angekommen war, hatte es eine Krise nach der anderen gegeben, und meine Selbstbeherrschung geriet allmählich ernsthaft ins Wanken.
Ethan war mit ein paar langen Schritten bei mir, und ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte er seine Arme um mich geschlungen und zog mich an sich.
»Weine nicht«, murmelte er in mein Haar. »Es ist doch nur so lange, bis dein Vater aus dem Gefängnis kommt. Nicht mehr als eine Nacht. Zwei – höchstens. Und ich werde dich hier unten nicht allein lassen. Wir stehen das gemeinsam durch.«
Ich dachte darüber nach, wie es wäre, wenn Ethan mich hier zurücklassen würde, und das reichte aus, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Sosehr es mir auch missfiel, es zuzugeben, doch es tat gut, dass er mich festhielt. Tränen rannen mir über die Wangen, und ich klammerte mich fast verzweifelt an Ethan. Er hob mich hoch und setzte mich auf eine der Pritschen, praktisch auf seinen Schoß. Er hielt mich noch immer in den Armen, hatte eine Hand an meinen Kopf gelegt, so dass mein Gesicht an seine Brust gedrückt wurde, und rieb mit der anderen beruhigend über meinen Rücken.
Seine Berührungen waren Ablenkung genug, und allmählich begann ich, mein Elend über meine Umgebung zu vergessen. Die Luft im Tunnelsystem war kühl, aber Ethans Körper war warm und behaglich. Und er duftete einfach lecker. Offenbar hatte er ein Eau de Cologne aufgelegt. Dezent, doch mit einem würzigen, erdigen Aroma. Ich atmete tief ein – einerseits, um die Tränen zu vertreiben, andererseits, um noch etwas von seinem Duft aufzunehmen.
Er zog mich ganz auf seinen Schoß, und ich
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