Rosenmörder (German Edition)
Wohngebiet. Sie
gingen Seite an Seite, ohne viel zu sprechen. Beide wussten, was der andere
gerade dachte.
Lola an ihr krankes Auge, dem sie nicht für ewig die Hoffnung nehmen
wollte, wieder sehen zu können. Immerhin konnte sie mühelos zwischen Hell und
Dunkel unterscheiden, ein Auto auf fünf Meter Entfernung verschwommen erkennen
und auf zehn Meter ein Haus von einem Schiffsrumpf unterscheiden. Sie dachte an
die Erweiterung des Gartens, an den geplanten Wintergarten, an ihren Beruf.
Ihre Stelle als Programmchefin beim Bayerischen Fernsehen hatte sie behalten.
Doch ewig würde solche Großzügigkeit in der jetzigen Wirtschaftslage nicht
währen, das war ihr klar.
Ottakring gingen die aggressiven Nachbarn nicht mehr aus dem Sinn.
Er war unfähig, an etwas anderes zu denken. Wie eine riesige dunkle Glocke
hatten sich ihre Demütigungen über sein Wesen gestülpt. Sie waren Prügel für
seine Seele. Die Machtlosigkeit war es, die ihn lähmte. Das Gefühl, Menschen
ausgeliefert zu sein, deren Machtgier, Gewalt, Brutalität und Einschüchterung
anders waren als alles, was er bisher erlebt hatte. Er selbst war zwar der Arzt
auf diesem Fachgebiet, doch gegen eine solche Epidemie war auch er hilflos. Er
hatte das blöde Gefühl, dass da etwas auf ihn zurollte, was er nicht
einschätzen konnte.
Er drückte Lolas Hand.
»Was ist?«, fragte sie.
»Du hast vollkommen recht«, sagte er. »Wenn das so weitergeht,
müssen wir uns total neu organisieren.«
Sie hatten am Vortag einen Meinungswechsel gehabt.
Lola hatte sich über ihn lustig gemacht. »Du bist selbst Polizist«,
hatte sie gelästert. »Und ein hochrangiger dazu. Und da kommen zwei kleine
Russen, und du musst vor denen kuschen? Nur weil sie nicht in eure Schubladen
passen? Sie haben niemanden von der Brücke gestoßen. Sie handeln nicht mit
Drogen. Sie haben nichts angezündet. Vielleicht haben sie grad mal falsch
geparkt. Und doch können sie einen ausgewachsenen Kriminalrat der Bayerischen
Polizei in Angst und Schrecken versetzen.«
»Angst nicht.«
»Gut, dann eben in einen Zustand der Ohnmacht und Schwäche, der
Atonie, was viel scheußlicher ist. Sie mobben dich, und du kannst ihnen nichts
nachweisen. Das ist das Problem. Dir fehlen Beweise. Und solange du keine Beweise
vorlegen kannst, wirst du vor keinem Gericht dieser Welt recht bekommen.«
»Sollen wir uns also mit einer Kamera im Anschlag auf die Lauer
legen?«, hatte er erwidert.
Lolas gesundes Auge hatte seine Leucht- und Überzeugungskraft nicht
verloren. »Ja«, sagte sie ernst. »Wenn’s sein muss, ja. Anders wird’s wohl
nicht funktionieren. Weiß der Henker, was deren Einfallsreichtum noch alles
hervorbringt.«
Im Schein einer Bogenlampe warf Lola einen flüchtigen Blick auf
Ottakring. Auf seinem Gesicht lag etwas, was sie von ihm nicht kannte: Es war
der entschlossene, unbarmherzige Ausdruck eines Henkers.
Sie blieben stehen. Ottakring straffte die Leine, um Herrn Huber zu
bändigen. Dann trat er nahe an Lola heran, so nahe, dass sie den Hauch seines
Atems auf beiden Lidern spüren konnte, über dem gesunden Auge und dem kranken.
Sie hörte ein unterdrücktes, bebendes Seufzen. Und spürte, wie er sich langsam
zu ihr neigte und seine Zähne so fest in ihre Halsbeuge stieß, dass sie
erschrak. Während Herr Huber mitfühlend aufjaulte, fühlte sie, wie ihre Haut
nass wurde. Sie standen in ihrem Wohngebiet mitten auf der Straße, und Lola
Herrenhaus wusste, dass diese Nässe nicht ihr Blut war.
Er weinte, wie Männer eben weinen. Lautlos, und doch geräuschvoll,
einem Tremolo gleich, zitternd und gewaltsam nach Luft ringend. Niemals bisher,
noch nie hatte sie erlebt, dass ihr Joe Ottakring jemals die Beherrschung
verloren hätte. Sie wollte sein Gesicht in beide Hände nehmen und ihn küssen.
Ihn trösten. Doch sein Mund lag fest an ihrem Hals, und seine Hände pressten
sich so hart in ihren Rücken, dass es ihr fast den Atem nahm. Sie stolperten
über die kleine Straße auf der Suche nach noch mehr Dunkelheit, nach einem
Versteck, in dem sie sich verbergen konnten, bevor sie wieder nach Hause gingen.
Herr Huber warf den Kopf hin und her und riss zur Seite aus. Die
Wucht seiner Bewegung riss Ottakrings Arm fast aus dem Gelenk. Bis auf das
Geräusch der hin und her schnalzenden Leine war die Nacht still. Kein Vogel
sang versehentlich, kein Motorrad dröhnte, kein Fernseher plärrte irgendwo.
Ottakring hörte nur sein Herz pochen.
Bis der Schuss krachte. Jedenfalls hielt Ottakring es
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