Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
Vom Netzwerk:
zu tun haben?«
    Ich ging in Charlottes Zimmer zurück und machte die Tür fest zu.
    »Was hast du gehört?«, fragte sie flüsternd.
    »Nichts. Ich war nur im Badezimmer. Ich bin keine Spionin.«
    »Ich glaube, dass sie bald miteinander gehen.«
    Ich sagte nichts.
    Wenige Minuten später kam Rose zurück, hockte sich wieder auf den Teppich und nahm das schwarze Buch in die Hand, als wäre nichts gewesen.
    »Worüber haben wir geredet?«, fragte sie aufgesetzt fröhlich.
    »Werwölfe«, antwortete ich.
    »Wir haben darüber geredet, dass Joe Dean wahrscheinlich ein Werwolf ist«, stimmte Charlotte ein.
    »Alle Jungs sind Werwölfe«, behauptete Rose und starrte in das Buch.
    »Meine Mom sagt manchmal, dass alle Männer Schweine sind«, erzählte ich, weil ich fand, dass es hierherpasste.
    »Hmm«, machte Rose. »Schweine und Wölfe – das ist aber ein großer Unterschied.«
    »Und was stimmt jetzt?«, wollte ich wissen.
    »Jungs sind weder Schweine noch Werwölfe«, widersprach Charlotte und zog angewidert die Oberlippe kraus. »Das ist Diskriminierung.«
    »Na gut, Charlotte«, entgegnete Rose patzig. »Die Menschen sind Schweine; die Menschen sind Werwölfe. Alle sind schreckliche, widerliche, beschissene Tiere.«
    Einen Moment lang stand Charlotte der Mund offen, doch sie fasste sich schnell wieder. Allerdings war sie anscheinend zu schockiert, um Rose wegen ihrer Ausdrucksweise zu schelten. Stattdessen widmete sie sich wieder ihren Minipuritanern.
    Vor lauter Langeweile kaute ich auf meinen Fingernägeln herum, ich wollte aber weder Rose nerven noch Charlotte bei ihrem Eins-plus-Schaubild helfen. Also wühlte ich in Charlottes Kiste mit den schwarzen Büchern, bis ich den Band mit meinem Lieblingsbild gefunden hatte: das von den sieben riesigen kastenförmigen Statuen, die in einer Reihe auf der Osterinsel standen. Alle hatten flache, eckige Köpfe, aber keine Münder. Ich mochte dieses Bild, und ich mochte die Statuen. Sie waren so rätselhaft und zugleich so friedlich. Sicher bewachten sie ein sehr altes Geheimnis. Nur welches? Mir war, als könnte ich sie ganz lange ansehen und müsste überhaupt nichts anderes tun – weder fernsehen noch Musik hören noch auf Charlottes Geplapper achten –, als zu überlegen, was die Figuren wohl bedeuten sollten. Soweit ich wusste, hatte Charlotte diesen Band nur einmal durchgeblättert und ihn dann beiseitegelegt, weil sie sich mehr für die Bücher interessierte, in denen es um Hellseher und Geister ging. Aber ich hatte mich ein bisschen länger mit diesem beschäftigt, und ich wusste: Wenn man sich zwischen die Statuen setzen würde und genauso still wäre wie sie, dann könnte man anfangen, sie ein klein wenig zu verstehen. Schon wenn man sie lange genug anguckte, fing man an, zu lächeln, ohne dass man begriff, warum. Aber Charlotte hatte sie noch nie so lange angesehen, also wusste sie davon nichts, und ich verriet es ihr nicht.

Fünf

    22. Mai 2006
    Als ich wieder aufwachte, war es bereits nach neun. Charlotte war schon seit Stunden weg. Wahrscheinlich hatte sie bereits mehrfach die Symbolik in Der scharlachrote Buchstabe besprochen, bevor ich überhaupt aufstand. Vor meinem geistigen Auge erschien eine Klasse voller Vierzehnjähriger: manche verpickelt, manche unausstehlich, manche niedlich, ein Mädchen, dem das Haar tief ins Gesicht hing, ein anderes, das mit einem spöttischen Grinsen Kaugummi kaute. Das einzig Verstörende an diesem Bild war, dass ich mir Charlotte nicht dort vorstellen konnte.
    Doch trotzdem war sie dort. Und mir wurde jetzt erst bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, was ich den ganzen Tag – mehrere Tage – lang ohne sie anfangen sollte. Als Erstes wollte ich irgendwo einen Kaffee trinken gehen. Also zog ich mir eine Jeans und eine Bauernbluse an und stieg in meine Clogs. Bevor ich rausging, schnappte ich mir schnell das Blatt vom Couchtisch, faltete es zusammen und steckte es in meine hintere Jeanstasche. Ich wusste zwar nicht, was genau es bedeuten sollte, aber ich hatte das Gefühl, als hätte Charlotte mir – in guter alter Lehrermanier – etwas zu tun dagelassen.
    Ich parkte beim »Dunkin’ Donuts« neben »Dean’s Auto Body.« Nachdem ich mir einen Kaffee geholt hatte, setzte ich mich aneinen der Tische und sah den Autos zu, die über die Kreuzung fuhren. Ich fragte mich, ob in manchen davon Leute saßen, die ich von früher kannte.
    Es war dasselbe »Dunkin’ Donuts«, in dem Charlotte und ich das letzte Mal miteinander

Weitere Kostenlose Bücher