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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
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unterdrücken. Dann wurde sie wieder ernst und sah weg.
    »Du wirst mir fehlen«, flüsterte sie so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es überhaupt hatte hören sollen – oder gar darauf antworten.
    Während mein Kaffee kalt wurde, blinzelte ich hinüber zur Autowerkstatt der Deans und versuchte zu erkennen, ob einer der Männer in der großen Halle Toby Dean war.
    Als Charlotte ihn gestern erwähnt hatte, war ich überrascht gewesen, denn ich hatte schon seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Toby Dean. » Der Junge mit dem Namen einer Wurst«, hatte meine Mutter früher immer gesagt. Da er ein Junge war – und zudem ein ganzes Jahr älter als wir –, hatten Charlotte und ich ihn als Kinder nie beachtet. Bei den wenigen Malen, die wir überhaupt mit ihm in Berührung gekommen waren, hatte er gewöhnlich etwas getan, was wenig Sinn ergab – wie beispielsweise eine tote Strumpfbandnatter in einer schmierigen Papiertüte mit sich herumtragen oder mit einem Golfschläger auf die Hecke seines Vaters eindreschen.
    Als wir noch klein waren, nannten ihn alle »Schieli«. Damals schielte er nämlich und trug deshalb eine Augenklappe über dem gesunden Auge, auf die ihm sein großer Bruder Joe einen haarigen, triefenden Augapfel gemalt hatte. Ich bezweifle, dass die Klappe viel ausrichten konnte, denn sie hing immer ein bisschen lose herunter, sodass Toby mit dem guten Auge über den Klappenrand hinweglinste.
    Charlotte und ich lernten Toby ein bisschen kennen, als er in der vierten Klasse sitzenblieb und in unsere Klasse kam. Wer sitzenblieb, war entweder wirklich dumm oder wirklich mies drauf. Was davon auf Toby zutraf, wusste ich nicht, aber jedenfalls war ich wenig begeistert darüber, dass man mich neben ihn setzte. Sein Atem roch immer ein wenig nach Kartoffelchips, seine Kleidung nach Mottenkugeln, und er hatte ein tiefes, blödes Lachen. Toby war viel größer als die anderen Kinder, und er interessierte sich für Geländeräder und Axl Rose. Am Ende der vierten Klasse hatte er, wenn er nach der Pause an seinen Platz zurückkam, immer dunkle Schweißflecken und verströmte einen affenartigen Körpergeruch, der mich von meinen schriftlichen Aufgaben ablenkte. Ich erinnere mich, dass ich versuchte, meine Nasenlöcher mit den Gesichtsmuskeln zusammenzudrücken – nicht mit den Fingern, um den armen stinkenden Toby nicht zu verärgern. Er hatte auch so schon genug Probleme, da brauchte er nicht auch noch ein Mädchen neben sich, das sich die Nase zuhielt.
    Manchmal fuhr meine Mutter bei ihm zu Hause vorbei und sah nach Tobys Dad, der gelegentlich Hilfe bei der Pflege von Tobys Großmutter brauchte. Sie lebte bei ihnen, bis sie schließlich an Krebs starb, als wir ungefähr zehn Jahre alt waren. Wenn Mom im Haus war, wartete ich meistens im Wagen oder draußen im Garten. Nur wenn es richtig kalt war, blieb ich in ihrem Windfang stehen, der mit Kunstrasen ausgelegt war. Ich hatte einfach Angst, jemand könnte uns als Freunde bezeichnen, sobald ich einmal an seinem Küchentisch gesessen oder sein Zimmer gesehen hätte.
    An der Junior High fing Toby dann an, viel älter zu wirken als alle anderen – und das nicht nur körperlich. Kicherten oder zappelten die anderen im Unterricht, knurrte er sie an:»Hey, hört mal auf«, oder er schüttelte genervt den Kopf und verschränkte die fleischigen Arme vor seinem Oberkörper. Inzwischen hatte er Deodorant und sogar Eau de Cologne für sich entdeckt, und die anderen respektierten ihn zumindest wegen seiner Größe und seiner Strenge. In der Schule war er nie besonders gut, doch die Lehrer gaben ihm anständige Noten, weil er fleißig war, freundlich und auf eine stoische Art vernünftig.
    Als Mensch nahm ich Toby eigentlich erst gegen Ende der Highschool wahr, als ich ein Stück entfernt von der Dean-Werkstatt bei »Stop & Shop« jobbte. Das erste Mal, als Toby mir anbot, mich nach Hause zu fahren, lehnte ich ab. Ich bildete mir ein, dass er mich mochte und ich ihn nicht ermutigen durfte. Erst viel später ging mir auf, dass er es wahrscheinlich meiner Mutter zuliebe tat, aus Dankbarkeit für ihre Hilfe bei der Pflege der todkranken Großmutter. So war Toby: Er revanchierte sich für die Gefallen der Erwachsenen, als wäre er einer von ihnen. Monatelang lehnte ich sein Angebot, mich mitzunehmen, ab, bis zum September des letzten Schuljahres. Mir war klar geworden, dass mein Stand in der Schule nicht noch schlechter werden konnte, als er es ohnehin schon war.

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