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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
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nicht zu beleidigen. Stumm beobachtete sie mich.
    »Was macht eigentlich deine Mom?«, fragte sie. »Hast du sie gestern auf dem Weg hierher besucht?«
    »Nein. Sie weiß gar nicht, dass ich hier bin.«
    Mir entging nicht, dass Charlotte kaum merklich die Augenbrauen zusammenzog, als sie an ihrem Kaffee nippte.
    »Willst du es ihr noch sagen?«
    »Wenn mir danach ist«, murmelte ich.
    Achselzuckend stand sie auf und steckte neues Brot in den Toaster.
    Als Charlotte zur Arbeit gefahren war, setzte ich mich mit meinem Kaffee auf die Couch und stellte den Fernseher an.Der morgendliche Wetterbericht fesselte mich ungefähr zehn Sekunden lang, dann ertappte ich mich dabei, wie ich den Couchtisch nach interessanten Objekten absuchte. Dort standen noch die beiden schmutzigen Weingläser von gestern Abend. Ich nahm mir vor, sie später zu spülen. Außerdem waren da eine Fernbedienung, ein Aschenbecher und ein getippter Text, den Charlotte liegen gelassen hatte.
    »Du« war das erste Wort, das fett gedruckt oben auf der Seite stand. Dann folgte ein Gedicht: »Eine riesige Wäscheleine am Himmel – / so weit oben, dass man den Boden kaum sieht ...« Es war das Gedicht, das Charlotte mir vorgelesen hatte, nur wunderte es mich, dass das Papier bereits vergilbt war und ich in einer Ecke diverse Löcher von Heftklammern entdeckte.
    Komisch, denn ich hatte gedacht, dass die diesjährige Ausgabe des Looking Glass noch in Arbeit sei. Doch dieses Blatt war schon eine Kopie, und unten rechts stand die Seitenzahl 11. Zudem sah der Rand aus, als wäre die Seite aus einem bereits gebundenen Heft gerissen worden. Flüchtig überflog ich das Gedicht unter dem ersten: »Pusteblume« von Jennifer Glass. Es begann mit der Zeile »Dichtes Gras kitzelt meine nackten Füße«. Gähn! Ich drehte das Blatt um. Oben rechts stand eine »10« und darunter »Rosafingriges Herz« von Kelly Sawyer.
    Kelly Sawyer . Der Name kam mir eindeutig bekannt vor, denn die größte Null in der Schule vergisst man nicht. Man erinnert sich wohl ein Leben lang daran, wie man den Namen mit einem hämischen Jaulen ausgesprochen hat (Kel-liiii SAW -yerrr). Noch Jahre später klingt er nach einer Krankheit, von der man hofft, dass sie einen nie erwischt. Kelly war mit Charlotte und mir in einer Klasse gewesen und hatte in derHighschool auf der sozialen Leiter noch weiter unten gestanden als ich, was schon einiges heißen wollte. Doch während ich mich hinter meinem Haar und meinem geschlossenen Mund versteckte, machte sich Kelly auf die schmerzlichste und peinlichste Weise bemerkbar: Sie sang sehr falsch »Sometimes When We Touch« beim Bunten Abend im ersten Highschool-Jahr und schrieb verhalten sinnliche Gedichte für die Schulzeitung.
    Ich erinnerte mich sogar an »Rosafingriges Herz«. Wie hätte man auch einen solch ekligen Titel vergessen können? Die Frage war wohl eher: Was hatte dieses Gedicht zehn Jahre später auf Charlottes Couchtisch zu suchen? Sie hatte doch angedeutet – oder zumindest glaubte ich, sie hätte das getan –, dass diese Wäscheleinen-Verse von einem ihrer heutigen Schüler stammten – was offensichtlich aber nicht zutraf. Diese Seite stammte vielmehr aus einer Ausgabe der Schulzeitung, die zu unserer Zeit erschienen war, und womöglich war es sogar Charlotte selbst gewesen, die das Gedicht über die Wäscheleine geschrieben hatte. Entweder das, oder sie und die anderen Englischlehrer bewahrten »Rosafingriges Herz« als Lückenfüller für künftige Ausgaben von Looking Glass auf, was kaum weniger bizarr war als die Vorstellung, dass Charlotte unsere alte Schulzeitung ausgrub, um mir bei unserem Wiedersehen daraus vorzulesen.
    Ich warf das Blatt auf den Tisch zurück und stellte meine Tasse daneben ab. Es war eindeutig viel zu früh, also ging ich wieder in Pauls altes Zimmer. Vielleicht ergab das alles nach ein paar Stunden mehr Schlaf einen Sinn.
Wesensverwandlungen
Oktober 1990
    Charlotte war mit ihrem Schaubild zu Die Hexe vom Amselteich beschäftigt. Mich ärgerte, dass sie sich dieses Buch ausgesucht hatte, denn das hatte sie zweifellos nur getan, weil es den Lehrern gefiel: Es war dick, historisch, lehrreich, und die Geschichte spielte in Connecticut. Es war unsere erste Buchbesprechung in jenem Jahr, und wir durften die Bücher frei wählen. Ich hatte mir Blubber von Judy Blume ausgesucht und mein Schaubild mit Tonpapierpuppen schon fertig. Die Puppen standen um Blubber herum im Bad, und aus ihren Mündern quollen kleine weiße

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