Rosenrot
Schnauzbart und fixierte ihn mit einem eigentümlichen Blick. Auch darauf hätte er reagieren müssen, dachte er dreizehn Sekunden später.
Der Schnauzbartpolizist trieb ihn ins Schlafzimmer und gleich ans Fenster. Es stand offen. Wie immer.
Der Fluchtweg.
Dort blieben sie stehen. Der Schnauzbartpolizist wandte sich zur offenen Küchentür um und wechselte laut ein paar Worte mit seinen Kollegen.
Das war die Chance, die Öffnung, die Möglichkeit.
Und doch überhaupt nicht. Genau das Gegenteil. Aber das erkannte er erst zehn Sekunden später. In eben der Sekunde, in der alles so vollkommen klar war.
Vielleicht war das der Augenblick, in dem er starb.
Der Augenblick des Fehltritts.
Er warf sich durchs Fenster nach draußen und erklomm die Brandleiter hinauf zum Dach. Ein paar Meter unter sich hörte er; wie der Schnauzbartpolizist seinen massigen Körper durchs Fenster zwängte.
Er erreichte das Dach. Er lief ein paar Meter, stürzte zur Speichertür.
Der Fluchtweg.
Die Tür war verschlossen.
Sie war nie verschlossen. Aber jetzt war sie verschlossen.
Er hatte noch fünf Sekunden zu leben, und die Fäden wurden mit furchtbarer Schnelligkeit verknüpft. Er zog die Diskette aus der Innentasche seiner Jacke und hielt sie hoch über den Kopf, hoch zu dem vollkommen klaren blauen schwedischen Sommerhimmel.
Es war der letzte Ausweg. Wenn es keinen Fluchtweg mehr gab. Nicht für ihn. Vielleicht für andere. Für sehr viele andere.
Der Schnauzbartpolizist kam die Brandleiter herauf. Er richtete eine Pistole auf ihn.
Er blickte in die Augen des Polizisten. Darin war die banale Wahrheit.
Er stand da mit der Diskette hoch über dem Kopf und spürte, dass er anbiss, dass er ihn am Haken hatte. Er lachte laut und warf die Diskette in Richtung des Polizisten.
Der Polizist fing sie auf, lächelte bedauernd und schoss.
Einen einzigen Schuss.
Sein Herz hätte zu klein sein sollen, um getroffen werden zu können. Nur ein Sandkorn.
Im Fallen dachte er, dass es vielleicht seine Fixierung auf die versteckten Vorurteile der neuen Sprache war, die ihn tötete.
Und als sein Gesicht auf dem Dachblech aufschlug, sah er -tatsächlich – aus wie einer, der sich schwarz geärgert hat.
2
Das Besondere an der Regeringsgata ist, dass sie nichts Besonderes aufzuweisen hat. Sie verläuft quer durch das Zentrum von Stockholm, und dennoch hat sie nichts Besonderes an sich. Eine ziemlich anonyme Straße ohne besondere Kennzeichen – so könnte ein Polizist sie beschreiben. Und die dunkelhaarige Frau im Trikot, die durch eine zwar recht ansprechende, aber doch anonyme Haustür in den Spätsommermorgen hinaustrat, dachte wirklich – nachdem sie einen schnellen Blick in beide Richtungen der Straße geworfen hatte: ›Ich wohne in einer ziemlich anonymen Straße ohne besondere Kennzeichen.‹
Sie war nämlich Polizistin.
Sie beugte sich noch einmal vor und schaffte es, ohne heimlich allzu sehr mit den Beinen einzuknicken, ihre Joggingschuhe mit den Fingerspitzen zu berühren. Dann lief sie los.
Es war bald halb acht, und es war Dienstag, der vierte September. Das Wochenende war überstanden – sie hatte überlebt –, und jetzt sollte das Leben wieder ins normale Gleis zurückfinden. Durch die Arbeit.
Das Wochenende war überwiegend anstrengend gewesen. Besuch mit dem Kirchenchor der Jakobsgemeinde und einem Kammerorchester irgendwo in Medelpad – sie konnte den Namen des Orts nicht einmal aussprechen – und die übliche Anmache seitens ein paar verwirrter Tenöre. Auch das Konzertprogramm war ihr keineswegs spannend vorgekommen; sonst war die Musik das versöhnliche Element derartiger Veranstaltungen. Doch diesmal war es ein Potpourri fader Italiener aus dem achtzehnten Jahrhundert und einiger mittelmäßiger Schweden aus dem neunzehnten Jahrhundert – ohne jedes Gefühl für die innere Dynamik des Kirchenchors. Pflichtsingen.
Und Pflichtsingen kam ihr in etwa so anregend vor wie Pflichtpolizeiarbeit. Will sagen: wie ein weiterer Schritt, der einen dem Tod näher brachte. Ohne dass man irgend etwas zurückbekam.
Die Frau, die jetzt die wenigen Meter zur Treppe an der Kungsgata joggte, hieß Kerstin Holm, war Kriminalinspektorin bei der ›Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter‹ bei der Reichskriminalpolizei, vorübergehend auch als A-Gruppe bekannt, und ging sichtlich auf die Vierzig zu. War jedoch ziemlich fit – wenn sie es selbst hätte sagen sollen.
Doch das tat sie ungern.
Es war ein
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