Rosenrot
klaren, ob das Laufen nützlich oder eher gesundheitsschädlich war, aber es fiel ihr auf jeden Fall immer leichter. Vielleicht bedeutete das nur, dass man sich schneller auf den Tod zu bewegte ...
Was scheuerte da an der linken Hand?
Da traf die Sonne ihre Augen.
Spätsommer. Eigentlich schon Herbst, wenn man ehrlich war. Die Sonne war spürbar verblasst, und der fächelnde Wind hatte eine neue Kühle.
Plötzlich Stopp.
An der Vasagata war die Ampel rot. Auf der Stelle zu laufen war das Schlimmste, was es gab – nichts sah lächerlicher aus. Grotesker Möchtegernprofessionalismus. Den Schenkelmuskeln zuliebe gab sie jedoch nach und hüpfte auf und ab wie ein Dorfidiot auf der Weide.
Gab es eigentlich noch Dorfidioten?
Hatte gut ein Jahrhundert der Urbanisierung sie nicht ausgerottet?
›Stadtidiot‹ klang eher tragisch als komisch, also blieb es bei ›Dorfidiot‹. Hoffentlich war sie selbst immer noch eher komisch als tragisch. Der Stich der Einsamkeit, der Stich des Älterwerdens in Einsamkeit, biss sich nicht fest in ihr, sondern war nach einer Sekunde verflogen. Nein, dachte sie schroff und wedelte mit den Händen wie ein Marathonläufer kurz vor dem Start. Nein, verdammt, ich bin nicht tragisch. Noch nicht. Noch nicht richtig.
In einem gewissen Alter werden alle Menschen tragisch. Bis dahin gedachte sie zu warten.
Und wieso Weide?
Jetzt scheuerte es wieder an ihrer linken Hand, aber gerade in dem Augenblick wurde dem Verstopften schlecht, wie ihre neunjährige Nichte zu sagen pflegte (das rote Männchen wurde grün), und sie folgte dem noch mäßigen Menschenstrom über die Vasagata. Von Norra Bantorget, auf der Höhe der Vasa, schwankten lärmend die Übriggebliebenen einer Junggesellenfete herunter, und sie legte einen Schritt zu. Denn sie zog die Spätsommersonne vor, die ihr draußen auf Kungsbron entgegentreten würde. Und so war es auch. Die Sonne hüllte Klara Strand in einen zauberhaften Morgenschimmer, der die Illusion erzeugte, Schwedens verkehrsreichstes Stück Straße sei ein Schärenidyll.
Der Zauberer Herbst mit seinen leicht durchschaubaren, aber lebensnotwendigen Illusionsnummern.
Es war ein ungewöhnliches Frühjahr gewesen. Mit faszinierender Regelmäßigkeit brachte das Frühjahr der A-Gruppe einen neuen Fall. Es schien, als hielte das internationale Verbrechens auf das sie ein Auge haben sollten, seinen Winterschlaf – um im Frühjahr mit frischen Kräften aus der Höhle zu kriechen und, durch die winterliche Untätigkeit maßlos geworden, seine grauenvollsten Taten zu begehen.
Doch in diesem Jahr war es anders gekommen. Die A-Gruppe wartete und wartete, das Frühjahr verlief ohne größere Zwischenfälle, und der Sommer hatte nichts als eine Episode von internationalem Verbrechen in Form von Steine werfenden Deutschen und schießfreudiger Polizei beim EU-Gipfeltreffen im Juni in Göteborg zu bieten.
Jetzt war der vierte September, und das EU-Gipfeltreffen konnte als das mit Abstand unangenehmste Ereignis des Jahres verzeichnet werden. Das Polizistendasein wurde schwieriger. Die Ordnungsmacht hatte mit einer noch nie erlebten Härte zugeschlagen. Sie hatte sich einer Front von Steinewerfern gegenüber gesehen, wie man sie in Schweden noch nicht erlebt hatte. Aussage stand gegen Aussage. Anzeigen gegen Polizeibeamte strömten herein, und es war schwierig, ein klares Bild davon zu gewinnen, was eigentlich geschehen war. Klar war jedenfalls, dass es am Morgen des vierzehnten Juni begann, als die Polizei das Hvitfeldtsche Gymnasium umstellte, wo eine Menge Demonstranten einquartiert waren. Man riegelte die Schule mit Transportcontainern ab. Kurz nach zwei Uhr begannen die Demonstranten, die berittene Polizei mit Steinen zu bewerfen. Im unmittelbar benachbarten Vasapark gingen die Konfrontationen weiter. Danach wurde eine Einsatzhundertschaft damit beauftragt, im Gymnasium die Personalien der Demonstranten zu überprüfen. Es war gewissermaßen eine militärische Operation, die von Hunderten von Polizisten, einem großen Aufgebot von Pferden und Hunden und von Hubschraubern durchgeführt wurde. Die Zeugenaussagen über das, was in der Schule eigentlich passiert war, gingen auseinander.
Als hätte das nicht gereicht, wiederholten sich die Ereignisse – nur noch schlimmer – am Tag darauf im Schiller-Gymnasium. Das Gymnasium wurde gestürmt, die Menschen wurden nach draußen getrieben und mussten stundenlang auf dem regennassen Schulhof ausharren.
Und dabei handelte es sich
Weitere Kostenlose Bücher