Rosenrot
Zeit war an einem anderen Ort in Schweden ein Flüchtling auf ähnliche Art und Weise erschossen worden.
Also wieder einmal.
Sie seufzte tief und versuchte, die Beinmuskeln wieder in Schwung zu bringen. Sie hatten schon nachgegeben. Sie konnte richtig spüren, wie die Mikrofasern wie Gummibänder gedehnt wurden, um beim geringsten kleinen Fehltritt zu reißen. Mit den vorsichtigen Schritten eines Minenräumers lief sie die letzten Meter die Scheelegata hinunter zum Rathaus, das zum immer noch klarblauen Septemberhimmel aufragte. Es war, als berührte sie kaum den Boden. Elfengleich schwebte sie am Polizeipräsidium entlang die Kungsholmsgata aufwärts bis zu dem Punkt, wo die Straße an der östlichen Grenze des Kronobergsparks ein Ende mit Schrecken fand. Erreichte die Polhemsgata und den Eingang der Reichskriminalpolizei. Als sie durch die schwerbewachten Türen eintrat und Schweiß über die polizeilichen Korridore verspritzte, wurde ihr klar, dass sie auf dem gesamten Weg keinen einzigen kleinen Wolkenzipfel gesehen hatte.
Dennoch wurde es eindeutig Herbst.
Sie stieß die Tür zum Umkleideraum der Frauen auf. Da stand ihre jüngere Kollegin Sara Svenhagen, den Kopf in ihrem Spind. Über den Jeans war ihr Oberkörper nackt. Sie warf sich rasch ein Handtuch um. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Kerstin Holm die Kollegin von der Seite. Das genügte.
Die kleine Wölbung des Bauchs war unverkennbar.
Und Sara sah, dass sie es sah. »Sag nichts«, bat sie ein bisschen verlegen und sah aus, als wäre sie mit den Fingern in der Keksdose ertappt worden.
Kerstin Holm nahm Sara Svenhagen in den Arm und drückte sie lange. Als sie dann ein wenig zurücktrat und sie betrachtete, kam es ihr vor, als wäre Sara von einem verklärenden Licht umhüllt.
Einem Spätsommerlicht.
»Wie weit bist du denn schon?« platzte Kerstin schließlich heraus.
»In der vierzehnten Woche«, sagte Sara.
»Und hast nichts gesagt!«
»Und werde auch nichts sagen. Und du auch nicht.«
»Nein. Nein. Nein. Ich auch nicht.«
Kerstin ließ Saras Arme los und fand keine Worte. Sie verstand eigentlich nicht, warum sie so überwältigt war. Übertrieb sie nicht ein bisschen?
»Ich frage mich, ob ich nicht vielleicht auch duschen muss«, lachte Sara.
Kerstin hob den Arm und roch. Die Frage war zweifellos berechtigt. Sie lachte kurz und ging zu ihrem Spind an der gegenüberliegenden Wand.
Sara warf das Handtuch in den Spind und zog sich einen sackartigen Pulli von der bauchverhüllenden Sorte über. »Hast du die Schlagzeilen gesehen?« fragte sie pulligedämpft.
»Mach jetzt nicht diesen Morgen kaputt«, rief Kerstin zurück, während sie ihre Joggingsachen auszog und sich der Dusche zuwandte.
Das Wasser war so kalt, dass sie sich wunderte, nicht von Eiszapfen durchlöchert zu werden. Während sie auf das warme Wasser wartete, steckte Sara den Kopf herein und zeigte auf die Uhr: »Vier Minuten und dreiundvierzig Sekunden.«
»Verschwinde, du Scheusal«, sagte Kerstin Holm.
Zuerst glaubte sie, ihre Periode bekommen zu haben, doch das Datum stimmte nicht. Das rosenrote Wasser, das in den Abflusswirbel der Dusche gesogen wurde, hatte eine andere Quelle. Sie schaute auf den linken Ringfinger, und tatsächlich zog sich von dort ein dünnes rotes Rinnsal abwärts, um immer farbloser zu werden und im glucksenden Abfluss zu verschwinden.
Wie lange sollte sie noch an ihr mangelndes Urteilsvermögen erinnert werden? Es war wie eine sich zäh in die Länge ziehende und ein wenig lächerliche Strafe. Schande als Strafe.
Sie versuchte, den Ring abzudrehen. Er saß an und für sich nicht besonders fest, aber jeder Versuch, ihn zu bewegen, war wie ein Schnitt mit dem Messer.
Schließlich war sie es leid, ihn abdrehen zu wollen, und zog statt dessen mit Gewalt. Lieber ein kurzer, intensiver Schmerz als ein in die Länge gezogenes Grummeln.
Sie bekam ein mikroskopisch kleines rotes Fitzelchen zu fassen und riss es aus der Haut. Ein Blutstrom im Miniaturformat quoll hervor.
Wie Wasser durch aufbrechendes Eis quillt.
Ihr Blick fiel auf den Ring. Die Inschrift. Sie hatte sie lange nicht angesehen. ›Auch viele Wasser löschen die Liebe nicht.‹
Und da kniete er wieder in diesem rosenroten Restaurant. Dag. Dag Lundmark. Und auf einmal waren die Worte ganz deutlich: ›Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz und wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine
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