Rosenschmerz (German Edition)
verzog keine Miene und blieb stumm.
Ottakring spürte, wie seine Anspannung stieg. Wie konnte er dieses
Schweigen brechen? Er musste den Gegner dazu bringen, sich zu bewegen. In
seinem Kopf bestand nicht der geringste Zweifel, dass ein Zusammenhang zwischen
Niki Kirchbichlers Tod und dem Mann existierte, der ihm scheinbar teilnahmslos
gegenübersaß.
»Woin’s wieder an Speck mitnehma?« Von einem Moment zum anderen
schien Silbernagl wie ausgewechselt.
Es ist die Erleichterung, die ihn so verändert, kam es Ottakring in
den Sinn. Er ist befreit, weil er denkt, dass ihr Gespräch beendet sei. Weshalb
aber diese Totenstarre vorhin? Weil er etwas zu verbergen hat.
Dann kam er darauf. Wie ein Blitz zuckte die Erkenntnis durch sein
Gehirn. Schon beim Hereinfahren, als er durch den Schneesturm hindurch die
weiten Felder ringsum und den Mischwald am Horizont wahrgenommen hatte, war
diese Überlegung vage aufgetaucht. Das ausladende Gehöft, die modernen
Maschinen in der Halle, das Vieh im Stall – das alles musste Millionen
wert sein. Und er, Ottakring, war verzweifelt darauf aus, einen Pfad
aufzuspüren, der von diesem Mann zu seiner Tochter, seinem Sohn und schließlich
zu Niki Kirchbichler führte. Sollte das Vermögen Silbernagls der Schlüssel zu
dieser Lösung sein?
Ottakring stand auf und trat hinter den Bauern, der sich vor ihm in
seinem Rollstuhl duckte und nervös mit den Fingerkuppen die Lehnen betrommelte.
»Sie wollen ja Kirchbichler umgebracht haben«, sagte er in harmlosem
Tonfall.
Der Kopf unter ihm nickte heftig.
»Dann hätten wir Sie schon längst festnehmen müssen. Dann säßen Sie
jetzt eine Zelle weit von Ihrer Tochter entfernt.«
»Naa«, kam es krächzend aus Silbernagls Mund. »Naa. Des stimmt net.
Die Kathi wär dann ja frei.« Die rechte Faust prügelte auf die unschuldige
Lehne ein.
»Ist das der Tausch, den Sie beabsichtigt haben? Vater statt Tochter
lebenslang?«
»Koa Tausch net. I hab eahm umbracht, den Sauhund, den
elendigen.«
»Okay, einverstanden. Ich nehm Sie sofort mit und lass die Kathi
frei, wenn Sie mir endlich meine Fragen beantworten: Wie haben Sie sich
unbemerkt in Ihrem Rollstuhl beim Voglwirt bewegt? Wie sind Sie über die Stufen
im Untergeschoss herumgehoppelt? Wie haben Sie den Kirchbichler eigentlich
umgebracht? Haben Sie ihm vielleicht die Kehle durchgeschnitten, ohne dass der
Arzt es bemerkt hat, als er den Totenschein ausgestellt hat?«
Ottakring wollte sich schon halb belustigt abwenden. Da passierte
etwas Erstaunliches.
Silbernagl stützte sich mit den Vorderarmen auf den Lehnen ab und
erhob sich zu voller Größe. Etwas zaghaft zwar, aber als er sich vom Rollstuhl
gelöst hatte, erschien es Ottakring, als stünde ein Gigant vor ihm.
Silbernagl dehnte und reckte sich, machte ein paar zaghafte Schritte
und sagte: »So. So war i unten beim Voglwirt, wo i den Kirchbichler umbracht hob.
Wo der den Abgang gmacht hod.« Steif stapfte er zur Tür, wendete und kam in
ebenso unbeholfenen Schritten zurück. »So war des gwen«, sagte er und legte
Ottakring eine Hand auf die Schulter.
Der kam sich vor wie in einem frühen Frankensteinfilm. »Weiß das
jemand außer mir, dass Sie aufrecht gehen können?«
Silbernagl schüttelte den Kopf. »Naa. Des woaß koaner. Überhaupts
koaner.«
Ob mit oder ohne Rollstuhl, dieser Mensch war am fraglichen Tag auf
keinen Fall im Voglwirt gewesen. Weder in der Wellness-Abteilung noch in der
Küche noch auf dem Dach. Das hatten sie mit seinem Foto mehrfach überprüft, und
das Ergebnis war eindeutig negativ gewesen. Außerdem hatte ihm ein
Landmaschinenvertreter, der am späten Nachmittag des Todestags auf dem Hof war,
einen Katalog in die Hand gedrückt. Da hatte er im Rollstuhl gesessen.
Dreißig Sekunden lang blieb Ottakring einfach stehen und starrte den
anderen an. Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie verunsichert er
war. Dann trat er vor Silbernagl hin und gab ihm einen kräftigen Schubs.
Der kräftige Mann kippte wie vom Hammer getroffen nach hinten weg
und landete unbeschädigt in seinem Rollstuhl.
Ottakring beugte sich über ihn. »Wer erpresst Sie?«, fragte er aufs
Geratewohl.
*
Wie identifiziert man eine Mutter?
Chili hatte ihre Mutter zuletzt gesehen, als sie selbst sechs Jahre
alt gewesen war. Die Frau, die da im Regen am Hydranten gelehnt hatte und die
sie wie selbstverständlich in ihre Wohnung gebeten hatte, war sicher einmal
schön gewesen. Nun aber sah sie aus, als ob die Jahre sie von
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