Rosenschmerz (German Edition)
dass sie von ihrer Verwandtschaft wussten, haben beide gelogen.
Und Lügen ist nicht nur eine terminologische Ungenauigkeit. Ein Lügner hat
immer etwas zu verbergen. Oder will ablenken.«
So lange hatten sie ihn selten reden hören. Sie musterten ihn
verwirrt und hielten den Atem an.
»Hört mal her. Was meint ihr, was Kirchbichler und Speckbacher
gemeinsam haben? Na?« Er blickte in die Runde.
»Sie sind beide schwul«, sagte Eva M., ohne das Gesicht zu
verziehen.
Ottakring griff nach einem Trennblatt, das auf seinem Schreibtisch
lag, und streckte es der Rolliererin entgegen.
»Gelbe Karte!«, rief er laut. »Beim nächsten Mal gibt’s Gelb-Rot.
Ich bitte mir mehr Ernst aus. Deinen Blödsinn kannst du sonst wo veranstalten,
aber nicht hier. Nicht in einem Mordfall.« Ottakrings Augen schossen Blitze auf
die Rolliererin ab, deren blasse Wangen sich mit sanftem Rosa füllten.
»Eva M. Wo wir schon dabei sind: Ich hatte Ihnen vor ungefähr
hundert Jahren einen Auftrag erteilt. Der Auftrag hat gelautet: Finden Sie
heraus, warum Frau Scholl leugnet, dass ihr Mann zu seinen Lebzeiten Katharina
Silbernagl kannte. Die Gschicht wurde dann noch durch die Tatsache verstärkt,
dass Herr Scholl sich mit Katharina regelmäßig in der Pension Blauer Enzian
getroffen hat. Ich hab den Auftrag zwar später auch auf Frau Toledo
ausgedehnt – aber niemals aufgehoben. Also?« Ganz beiläufig streifte sein
vorwurfsvoller Blick auch Chili.
Die sonst so coole Eva M. mit ihrem verschmitzten Charme und
ihrer Koboldgrazie suchte den Fußboden nach einem Loch ab, in das sie
hineinkriechen konnte. Mei, dachte Ottakring, waren das noch Zeiten, als man
sich darauf verlassen konnte, dass etwas ausgeführt wird, was man anordnet.
Chili war anzusehen, was sie dachte: Als wäre Ottakring auf der
Karriere zum Henker bei der Kripo hängen geblieben. Wie er das Mädel am
ausgestreckten Arm verhungern ließ, das gefiel ihr nicht.
Im Türrahmen erschien ein Arm, der ein Papier in den Raum streckte.
Eva M. nahm es entgegen und überflog die Botschaft. Sie hatte
ihre gewohnte Gesichtsblässe wieder.
Der Arm verschwand wieder.
»Das kommt grade rein«, sagte sie und richtete den Blick auf Chili.
»Eine Frau steht vor Ihrer Wohnungstür. Sie behauptet, sie sei Ihre Mutter.«
*
»Ihre Mutter, Chili? Wenn das stimmt, müssen Sie sofort
hin.«
Ottakring hatte sie regelrecht gezwungen, zu gehen. Wenn die Mutter
tatsächlich nach so vielen Jahren jetzt vor ihrer Tür stand, hatte er erklärt,
konnte das nur zwei Gründe haben: Entweder sie war übermannt vor Sehnsucht oder
sie war abgebrannt. Er vermutete Letzteres.
Chili war aufgeregt und ratlos. Schwankend zwischen Trotz und
Pflicht. Sie entschied sich für einen Mittelweg. Zuerst die Pflicht und dann
schaumermal.
Zu gern hätte sie mehr über diese Gemeinsamkeit zwischen
Kirchbichler und Speckbacher erfahren. Ottakring hatte ihr lediglich zugeraunt,
dass Dr. Vach auch Speckbacher ein Antidepressivum verschrieben hatte. Mehr zu
verraten, darauf hatte er verzichtet. In der Kürze der Zeit, wie er es
ausgedrückt hatte.
So war sie nun dabei, Eva M.s unterlassene Hausaufgaben zu
erledigen. Vor genau einer Woche war Ottakring mit Katharinas Foto bei Frau
Scholl gewesen. Obwohl Klein-Ferdinand die Frau auf dem Foto erkannt hatte,
hatte seine Mutter jede Bekanntschaft geleugnet. Warum?
Der Erler Wind wehte aus südlicher Richtung. Er fühlte sich an wie
ein Kübel Eiswasser, über die Schultern geschüttet. Trotzdem war es untypisch warm
für einen Rosenheimer Winter. Laub und verharschter Schnee bedeckten die
Wegränder mit einer glitschigen Schicht.
Zuerst brachte Chili ihren Atem in Ordnung. Ihr Herz stieß an die
Rippen. »Grüß Gott, Frau Scholl«, sagte sie dann freundlich.
Da stand Frau Scholl, wie Ottakring sie beschrieben hatte, die
Klinke in der Hand. In grau gekleidet, dunkle Augenringe und olivfarbene Haut.
Als sie erkannte, wer geschellt hatte, schob sie Klein-Ferdinand hastig in den
Flur zurück und versuchte die Tür von innen zuzuziehen.
Doch Chili und ihr rechter Fuß gewannen den Wettbewerb. »Warum tun
Sie das?«, herrschte sie Frau Scholl an. »Sie kennen mich. Ich war eine
Kollegin Ihres Mannes.«
»Was wollen Sie von mir? Ich bin frischgebackene Witwe. Ich muss den
Schmerz erst verarbeiten. Ich will jetzt niemanden sehen. Auch keine früheren
Kolleginnen, äh, Untergebenen.« Sie sprach in einem leicht genervten
Quengelton.
Drinnen läutete das Telefon.
Chili
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