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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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wiederholte sie: »Fort! Fliehen Sie!«
    »Nein!« sagte Julian ernst und fest. »Nach vierzehn Monaten des Leids gehe ich nicht von dir, ohne mit dir gesprochen zu haben. Ich will wissen, wie es dir ergangen ist. Ich habe dir genug Liebe bewiesen, um dies Vertrauen zu verdienen. Ich muß alles wissen.«
    Sein gebieterischer Ton drang ihr ins Herz, sosehr sie sich dagegen sträubte. Bis jetzt hatte Julian sie fest in seinen Armen gehalten und ihre Befreiungsversuche abgewehrt. Nun ließ er sie los. Das beruhigte Frau von Rênal ein wenig.
    »Ich will die Leiter heraufziehen«, sagte er. »Sie könnte uns verraten, falls einer der Leute durch den Lärm aufgewacht sein sollte und einen Rundgang macht.«
    »Nein! Gehen Sie! Gehen Sie!« gebot Frau von Rênal in wundervollem Zorn. »Was kümmern mich die Leute? Gott sieht die schändliche Szene doch, die Sie mir bereiten! Er wird mich dafür strafen. Sie nützen in unritterlicher Weise eine Zuneigung aus, die ich einmal für Sie gehegt habe, aber nicht mehr hege. Verstehen Sie mich, Herr Julian?«
    Behutsam, um keinen Lärm zu verursachen, zog er die Leiter ins Zimmer.
    »Dein Mann ist in der Stadt?« fragte er, nicht um sie zu höhnen, sondern ganz wie ehedem.
    »Ich bitte Sie inständig, sprechen Sie nicht so zu mir. Oder ich rufe meinen Mann. Ich bin schon schuldig genug, daß ich Sie nicht sogleich weggewiesen habe, gleichgültig, was geschehen wäre.«
    Mit den letzten Worten wollte sie seinen Stolz verletzen, dessen Empfindsamkeit sie so gut kannte.
    Die Verweigerung des Du, dieses unbarmherzige Zerreißen eines zärtlichen Bandes steigerte seiner Liebe Überschwang zur Raserei.
    »So! Also lieben Sie mich nicht mehr!« klagte er in rührendem Herzeleid.
    Frau von Rênal blieb stumm.
    Er weinte bitterlich. Tatsächlich hatte er nicht mehr die Kraft, zu reden.
    Nach einer Weile sagte er: »So bin ich also ganz vergessen von dem einzigen Wesen, das mich jemals geliebt hat! Wozu weiterleben?«
    All sein Mut war von ihm gewichen, seitdem er die Gefahr der Begegnung mit einem Manne nicht mehr zu fürchten hatte. Nichts war in seinem Herzen, nur noch die Liebe.
    Lange weinte er vor sich hin. Er nahm ihre Hand. Sie wollte sie ihm entziehen, aber nach ein paar krampfhaften Versuchen ließ sie sie ihm. Es war stockfinster. Sie hatten sich unwillkürlich nebeneinander auf Frau von Rênals Bett gesetzt.
    »Wie anders war es vor vierzehn Monaten!« dachte Julian, und seine Tränen flössen noch stärker. »So vernichtet das Fernsein erbarmungslos jedes Gefühl im Menschen!«
    »Seien Sie so gütig und erzählen Sie mir, wie es Ihnen ergangen ist!« bat er schließlich mit tränenerstickter Stimme, als ihn sein Schweigen zu quälen begann.
    Frau von Rênal erwiderte in einem Tone, dessen harter Klang Julian lieblos und vorwurfsvoll berührte. »Als Sie fortgingen von Verrières, war meine Verfehlung stadtbekannt. Ihr Verhalten war ja vielfach unvorsichtig gewesen. Bald darauf, als ich nahe daran war, völlig zu verzweifeln, suchte mich der ehrwürdige Pfarrer Chélan auf. Lange Zeit bemühte er sich vergeblich, mich zum Geständnis zu bringen. Eines Tages kam er auf den Gedanken, mich in die Kirche von Dijon zu führen, wo ich eingesegnet worden bin. Dort fand ich den Mut, ihm zum ersten Male ...«
    Frau von Rênal vermochte vor Tränen nicht weiterzureden.
    »Ach, welch eine Stunde der Schmach! Ich habe ihm alles gestanden. Der Gute schmetterte mich nicht mit seiner Verachtung zu Boden. Er war mild. Er teilte meinen Schmerz. Bis dahin hatte ich Ihnen Tag für Tag einen Brief geschrieben, aber niemals abzuschicken gewagt. Ich hatte diese Briefe sorgsam aufbewahrt. Und wenn ich ganz unglücklich war, schloß ich mich in mein Zimmer und las in meinen eigenen Briefen ... Der Pfarrer Chélan setzte es durch, daß ich ihm die Blätter einhändigte. Etliche, die vorsichtigeren, die hatte ich Ihnen geschickt. Aber Sie haben nie geantwortet...«
    »Nie«, unterbrach Julian sie, »das schwöre ich dir, nie habe ich im Seminar einen Brief von dir erhalten!«
    »Großer Gott! Wer mag sie aufgefangen haben?«
    »Stelle dir mein Leid vor! Bis zu dem Tage, da ich dich in der Kathedrale sah, wußte ich nicht, ob du noch lebtest!«
    »Gott war gnädig und ließ mich erkennen, wie sehr ich mich an Ihm versündigt hatte, an Ihm, an meinen Kindern und an meinem Gatten. Er hat mich niemals so geliebt, wie ich damals von Ihnen geliebt zu werden glaubte ...«
    Julian umarmte sie, ohne jedwede

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