Rot und Schwarz
wie ein junges Mädchen zu überwachen. Verlieren Sie Ihre Unschuld nur gleich, wenn Sie sie noch zu verlieren haben! Dann brauche ich keine Angst mehr um Sie zu haben. Übermorgen früh wird Ihnen der Schneider zwei Anzüge schicken. Dem Zuschneider, der sie Ihnen anprobiert, geben Sie fünf Franken Trinkgeld! Übrigens: reden Sie mit diesen Pariser Spottvögeln nicht in Ihrem Provinzfranzösisch. Ein Wort – und Sie sind verraten und verkauft. Darin haben die Leute etwas los. Übermorgen mittag kommen Sie zu mir. So, jetzt gehen Sie ... und sündigen Sie ... Noch eins: besorgen Sie sich Schuhe, Hemden und einen neuen Hut. Hier sind die nötigen Adressen!«
Julian betrachtete die Handschrift des Zettels.
»Eigenhändig geschrieben!« sagte der Abbé. »Der Marquis ist ein tätiger und weitblickender Herr, der lieber selber handelt, statt daß er bloß befiehlt. Er nimmt Sie in seinen Dienst, um sich die kleinen Mühen zu ersparen. Werden Sie Auffassungsgabe genug haben, alles, was dieser lebhafte Mensch kurz andeutet, richtig auszuführen? Die Zukunft wird diese Frage beantworten. Passen Sie gut auf!«
Ohne viel zu reden, suchte Julian die ihm aufgeschriebenen Geschäfte auf. Dabei machte er die Wahrnehmung, daß man ihn überall respektvoll empfing. Der Schuhmacher trug seinen Namen als Herr Julian von Sorel in sein Buch ein.
Unter anderm suchte Julian den Friedhof Père-Lachaise auf. Ein ungemein höflicher und in seinen Reden riesig liberaler Herr hatte die Gefälligkeit, ihn an das Grab des Marschalls Ney zu führen, des Treuesten der Treuen unter Napoleons Generalen. Die hochwohlweise Regierung jener Zeit versagte ihm die Ehre einer Grabschrift. Als sich Julian von dem freundlichen liberalen Herrn getrennt hatte, der ihm, Tranen in den Augen, fast um den Hals gefallen war, hatte er keine Taschenuhr mehr.
Um eine Erfahrung reicher stellte er sich am übernächsten Tage Punkt zwölf Uhr beim Abbé Pirard ein, der ihn einer genauen Besichtigung unterzog.
»Sie haben Anlage, ein Dandy zu werden«, meinte er in strengem Tone.
Julian sah wirklich ganz leidlich aus, wie ein junger Herr in Trauer. Nur war der brave Abbé selber zu sehr Provinzler, als daß er bemerkt hätte, daß sein Schützling die Schultern noch immer in der Art trug, die in der Provinz Eleganz und Würde bedeuten soll. Der Marquis, der ihn gleich darauf musterte, urteilte etwas anders.
»Haben Sie etwas dagegen, Herr Pfarrer, wenn Herr Sorel Tanzstunden nimmt?«
Der Abbé war starr.
»Nein, Euer Exzellenz«, erwiderte er schließlich. »Julian ist nicht Priester.«
Der Marquis betrat eine Geheimtreppe und führte seinen neuen Sekretär, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf in eine freundliche Dachstube, deren Aussicht auf den großen Park des Hauses ging.
Oben fragte er, wieviel Hemden Julian im Wäschegeschäft bestellt habe.
»Zwei Stück, Euer Exzellenz«, gab er zur Antwort, etwas befangen darüber, daß sich ein so hoher Herr um derartige Kleinigkeiten zu kümmern geruhte.
»Schön!« sagte der Marquis mit ernster Miene und in kurzem Befehlstone, der Julian nachdenklich stimmte. »Bestellen Sie noch zweiundzwanzig dazu! Hier haben Sie das Gehalt des ersten Vierteljahres.«
Nachdem sie zusammen wieder hinuntergestiegen waren, rief der Marquis einen älteren Diener. »Arsen«, befahl er ihm, »Sie übernehmen die Bedienung des Herrn Sorel!«
Ein paar Minuten später befand sich Julian allein in der herrlichen Bibliothek. Eine köstliche Augenweide! Um in seiner Erregung nicht etwa überrascht zu werden, setzte er sich in die dunkelste Ecke. Von hier aus betrachtete er voller Entzücken die glänzenden Bücherrücken. »Das darf ich alles lesen!« frohlockte er. »Hier muß es mir ja gefallen! Herr von Rênal hätte sich auf immerdar für entehrt gehalten, wenn er für mich nur den hundertsten Teil dessen getan hätte, was der Marquis tut ... Ah, da liegen die Briefschaften, die ich zu erledigen habe!«
Als Julian mit seiner Arbeit fertig war, wagte er sich an die Bücher. Er ward fast närrisch vor Freude, als er eine Voltaire-Ausgabe entdeckte. Schnell lief er nach der Tür des Bibliothekzimmers und blickte hinaus, ob ihn auch niemand stören werde. Dann machte er sich das Vergnügen, jeden einzelnen der achtzig Bände aufzuschlagen. Die kostbaren Einbände waren die Meisterleistung eines der geschicktesten Londoner Buchbinder. Julians Bewunderung war grenzenlos.
Eine Stunde darauf trat der Marquis ein. Er sah die
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