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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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um sich in dieser Hinsicht genau kennenzulernen. Als er sich schließlich über seinen Seelenzustand völlig klar war, als er die Wahrheit genauso deutlich vor sich sah wie die Pfeiler seiner Gefängniszelle, da fragte er sich: »Bereue ich?
    Warum sollte ich Reue empfinden? Man hat mich auf das grausamste verletzt. Ich bin zum Mörder geworden. Ich verdiene den Tod. Das ist alles in Ordnung. Ich schließe meine Rechnung mit der Menschheit ab und sterbe. Ich hinterlasse keine unerfüllte Pflicht. Ich schulde niemandem etwas. Mein Tod ist nur durch seine Art eine Schande. In den Augen der Spießbürger von Verrières allerdings eine Riesenschande. Was gehen mich aber die Spießbürger an? Übrigens hätte ich ein Mittel, ihnen zu imponieren. Ich brauchte bloß beim Gange zum Hochgericht Goldstücke unter das Volk zu werfen. Durch die Verbindung mit dem Begriffe Geld bekäme mein Andenken eine ewige Gloriole...«
    Dann wiederholte er sich: »Ich habe also auf Erden nichts mehr zu tun« und schlief fest ein.
    Abends gegen neun Uhr weckte ihn der Kerkermeister und brachte ihm das Abendessen.
    »Was redet man in der Stadt?«
    »Herr Sorel, an dem Tage, wo ich hier meine Stelle antrat, habe ich einen Eid geleistet, der mich zum Stillschweigen verpflichtet.«
    Weiter sagte er nichts, verblieb aber. Seine gemeine Heuchelei belustigte Julian.
    »Ich muß ihn recht lange nach dem Taler zappeln lassen, den er von mir erwartet, um mir seine ewige Seligkeit zu verschachern!«
    Als der Kerkermeister sah, daß die Mahlzeit zu Ende ging, ohne daß ein Bestechungsversuch stattfand, sagte er in verlogener Zutraulichkeit: »Die Freundschaft, die ich für Sie hege, zwingt mich zu reden, obgleich man behauptet, das sei gegen das Interesse der Justiz, weil Sie sich darnach Ihre Verteidigung zurechtlegen könnten ... Sie sind ein guter Kerl! Es wird Sie freuen zu hören, daß es der Frau Bürgermeister besser geht...«
    »Was!« schrie Julian außer sich. »Sie ist nicht tot?«
    »Wußten Sie das denn nicht?« fragte der Kerkermeister, während seine stumpfsinnige Miene mehr und mehr den Ausdruck vergnügter Habgier verriet. »Eigentlich sollte Herr Sorel dem Doktor ein kleines Douceur zukommen lassen, denn von Rechts wegen darf er nichts verlauten lassen. Um Ihnen einen Gefallen zu tun, bin ich nämlich zu ihm gegangen und habe mich erkundigt. Er hat mir alles erzählt...«
    »Also ist die Wunde nicht tödlich?« unterbrach ihn Julian voll Ungeduld. »Der Teufel soll Sie holen, wenn Sie lügen!«
    Noiroud, ein baumlanger Mensch, bekam Angst und wich nach der Tür zurück. Julian sah ein, daß er auf diesem Wege schwerlich die Wahrheit erführe. Er setzte sich nieder und warf dem Gefängniswärter ein Goldstück hin.
    Der weitere Bericht des Mannes überzeugte ihn, daß Frau von Rênal nicht tödlich getroffen war. Er fühlte sich dem Weinen nahe.
    »Gehen Sie!« herrschte er ihn an.
    Der Kerkermeister gehorchte.
    Kaum war er hinaus, da rief Julian aus: »Allmächtiger, sie ist nicht tot!«
    Er sank in die Knie und vergoß heiße Tränen. Im Augenblicke seiner Erregung war er gläubig.
    Als er sich dessen bewußt ward, sagte er sich: »Was geht mich die Komödie der Pfaffen an? Sie haben mit der erhabenen Wahrheit des Gottesgedankens nichts zu schaffen!«
    Nun erst begann er die begangene Untat zu bereuen. Er wäre der wildesten Verzweiflung verfallen, wenn nicht gleichzeitig durch einen merkwürdigen Zusammenhang die körperliche Überreizung und die seelische Halbverrücktheit von ihm gewichen wären, die ihn seit seiner Abreise von Paris in ihrem Bann gehabt hatten. Die Tränen, die er vergoß, hatten eine edle Quelle. Er zweifelte nicht daran, daß er dem Tode geweiht war.
    »So bleibt sie am Leben!« flüsterte er vor sich hin. »Sie wird leben ... mir verzeihen ... mich lieben!«
    Am nächsten Morgen weckte ihn der Kerkermeister sehr spät.
    »Sie müssen Nerven aus Eisen haben!« meinte er. »Ich bin schon zweimal dagewesen, wollte Sie aber nicht wecken. Hier sind zwei Flaschen Wein bester Sorte. Unser Pfarrer, Herr Maslon, schickt sie Ihnen ...«
    »Was? Der Spitzbube ist noch immer im Ort?« unterbrach ihn Julian.
    »Freilich, Herr Sorel!« erwiderte Noiroud mit verhaltener Stimme. »Sprechen Sie nur nicht so laut! Es könnte Ihnen schaden.«
    Julian lachte herzlich.
    »An dem Punkte, wo ich angelangt bin, mein Verehrtester«, sagte er, »könnten nur Sie mir schaden, indem Sie aufhörten, freundlich und menschlich mit mir zu

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