Rot und Schwarz
bekommen. Unglück und ewige Reue läßt er hinter sich zurück...«
Der Brief war sehr lang und stellenweise von Tränen halb verwischt. Frau von Rênal hatte ihn mit besonderer Sorgfalt geschrieben.
Als er zu Ende gelesen hatte, sagte Julian: »Ich kann Herrn von La Mole keinen Vorwurf machen. Er hat klug und recht gehandelt. Welcher Vater gibt seine Lieblingstochter einem solchen Subjekt! Lebe wohl!«
Damit sprang er aus der Droschke und lief nach seinem Postwagen, der am Eingang der Straße hielt. Mathilde, die offenbar für ihn nicht mehr da war, wollte ihm nacheilen. Aber die Krämer, die in ihren Ladentüren standen, waren stutzig geworden. So sah sie sich gezwungen, in ihren Garten zurückzueilen.
Julians Ziel war Verrières. Auf dieser hastigen Fahrt wollte er an Mathilde schreiben, aber er war nicht dazu imstande. Was er auf das Papier warf, war unleserlich.
Es war Sonntag vormittags, als er in Verrières anlangte. Sein erster Gang war zum Waffenhändler, der ihn mit Glückwünschen überhäufte. Die ganze Gegend sprach ja von seinem neuerlichen Glück. Er kaufte ein Paar Pistolen und ließ sie sich sogleich laden.
Als er aus dem Geschäft heraustrat, ertönte der Dreischlag. In den französischen Dörfern ist dies nach mehrfachem Läuten das wohlbekannte Zeichen des alsbaldigen Beginnes der Messe.
Julian betrat die neue Kirche von Verrières. Die sämtlichen hohen Fenster des Schiffes waren mit scharlachroten Vorhängen bedeckt. Ein paar Schritte hinter dem Sitz von Frau von Rênal blieb er stehen. Er sah, wie sie inbrünstig betete. Als er diese Frau, die er so heiß geliebt hatte, erblickte, zitterten ihm die Hände, so daß er sein Vorhaben zunächst nicht auszuführen vermochte.
»Ich kann es nicht!« sagte er zu sich selbst. »Mein Körper versagt mir den Gehorsam.«
In diesem Augenblick klingelte der Chorknabe, der bei der Messe ministrierte, zur Erhebung der Monstranz. Frau von Rênal senkte den Kopf. Fast sah Julian ihr Gesicht nicht mehr. Die Falten ihres Schals verdeckten es.
Jetzt schoß er auf sie aber er traf nicht. Er schoß nochmals. Frau von Rênal sank um.
----
Sechsunddreißigstes Kapitel
Traurige Einzelheiten
Erwarte von mir keinerlei Schwäche. Ich habe mich gerächt. Ich habe den Tod verdient, hier stehe ich. Bete für meine Seele.
Schiller
J ulian blieb unbeweglich stehen. Er sah nichts mehr. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß alle Andächtigen aus der Kirche flohen. Der Priester hatte den Altar verlassen.
Langsam schritt Julian hinter ein paar Weibern her, die kreischend davonliefen. Eine der Frauen, die rascher laufen wollte als die andern, prallte heftig an ihn an. Dadurch geriet er aus dem Gleichgewicht und stolperte über einen von der Menge umgerissenen Stuhl. Als er wieder aufstehen wollte, fühlte er sich am Kragen gepackt. Ein Schutzmann in voller Uniform nahm ihn fest. Unwillkürlich griff Julian nach seinen Pistolen, aber ein zweiter Gendarm fiel ihm in den Arm.
Man führte ihn ins Gefängnis ab, steckte ihn in eine Zelle und legte ihm Ketten an. Dann verließ man ihn, und die Tür ward fest verschlossen. Alles das geschah in rascher Folge.
Unempfindlich ließ er alles geschehen. Als er zur klaren Besinnung kam, sagte er sich: »Ja, ja, nun ist alles aus! In vierzehn Tagen stehe ich vor der Guillotine ... wenn ich mich bis dahin nicht selber umgebracht habe...«
Mehr vermochte er nicht zu denken. Es war ihm, als würde ihm der Kopf mit aller Gewalt zusammengepreßt. Er blickte um sich. Er hatte die Empfindung, als habe ihn jemand angefaßt. Nach einer Weile schlief er fest ein.
Frau von Rênal war nicht tödlich verwundet. Die erste Kugel hatte ihren Hut durchbohrt. Gerade als sie sich umwandte, war der zweite Schuß losgegangen. Die Kugel war bis auf das Schulterblatt eingedrungen, hatte den Knochen zerschmettert, war dabei aber zurückgeprallt und gegen eine der gotischen Säulen geflogen, aus der ein Stück Stein abgesprengt ward.
Als ihr der Wundarzt, ein ernster Mann, nach schmerzhafter Umständlichkeit einen Verband angelegt hatte, erklärte er: »Ich stehe Ihnen für Ihr Leben wie für das meine!« Da ward sie tieftraurig.
Seit langem hegte sie aufrichtige Todessehnsucht. Der Brief an Herrn von La Mole, den ihr jetziger Beichtvater ihr abgezwungen hatte, versetzte ihrem durch beständiges Herzeleid zerrütteten Gemüt den letzten Stoß. Dies Herzeleid hatte seinen Grund in der Trennung von Julian. Sie nannte es freilich Reue. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher