Rot und Schwarz
Manne. Er kam Julian nur noch wie der Schatten seiner einstmaligen Erscheinung vor.
Als er wieder zu Atem gekommen war, sagte er: »Erst vorgestern habe ich Ihren Brief aus Straßburg mit den fünfhundert Franken für die Armen von Verrières erhalten. Man hat ihn mir ins Gebirge nachgesandt, nach Liveru, wo ich mich bei meinem Neffen Hans zur Ruhe gesetzt habe. Gestern erfahre ich den schrecklichen Vorfall ... Allmächtiger, wie ist das möglich?«
Der Greis hatte aufgehört zu weinen. Sichtlich keines klaren Gedankens mehr fähig, setzte er mechanisch hinzu: »Sie werden Ihre fünfhundert Franken nötig haben. Ich bringe sie Ihnen wieder.«
»Nötig habe ich nichts als Euer Hochwürden!« entgegnete Julian gerührt. »Geld habe ich vollauf.«
Des weiteren bekam er nichts Vernünftiges mehr aus dem alten Manne heraus. Von Zeit zu Zeit traten einzelne Tränen in Chélans Augen, die er schweigend über seine Wangen hinabrollen ließ. Dann schaute er Julian an und sah wie geistesabwesend zu, daß Julian seine Hände nahm und an seine Lippen führte.
Bald darauf erschien ein Bauernbursche, um den Alten abzuholen.
»Man darf nicht mehr viel von ihm verlangen«, sagte er zu Julian. Es war offenbar der Neffe.
Als die beiden fort waren, versank Julian in schmerzliche tränenlose Grübelei. Alles erschien ihm trüb und trostlos. Es war ihm zumute, als höre sein Herz auf zu klopfen. Das war das grausamste Erlebnis, das ihm seit seiner Freveltat widerfuhr. Jetzt sah er den Tod vor sich in aller seiner Häßlichkeit. Alle seine Illusionen von Seelengröße und Heldentum waren zerstoben wie Wolken vor dem Sturm.
Diese qualvolle Stimmung währte mehrere Stunden. Gegen solche Seelenvergiftung gibt es physische Heilmittel, zum Beispiel Champagner. Aber Julian hielt es für feig und verächtlich, seine Zuflucht dazu zu nehmen.
Als der Schreckenstag, an dem er in einem fort in seinem engen Turmgelaß hin und her gewandelt war, endlich zur Rüste ging, rief Julian aus: »Was bin ich für ein Narr! Wenn ich sterben müßte wie andere, dürfte mich der Anblick dieses armen alten Mannes in diese schreckliche Traurigkeit versetzen. So aber winkt mir ein rascher Tod in der Blüte meines Daseins, der mich vor so trübseligem menschlichem Verfall bewahrt...«
Aber welche Gründe er auch hervorsuchte, er blieb doch infolge dieses Besuches niedergedrückt. Er schalt sich rührselig und kleinmütig. Es war nichts Herbes und Großartiges mehr in ihm, kein römisches Mannestum. Der Tod stand vor ihm wie ein Riese, wie ein Despot, so gar nicht mehr als etwas Leichtes und Schönes.
»Der Stimmungsmesser meiner Seele!« scherzte er. »Heute abend stehe ich zehn Grad unter dem Mute, den ich auf meinem Gange zur Guillotine brauche. Heute früh war ich auf Normalnull. Aber was tut's? Wenn das Barometer nur im rechten Augenblicke steigt.«
Das Gleichnis machte ihm Spaß und lenkte ihn ab.
Als er am andern Morgen aufwachte, schämte er sich des vergangenen Tages. »Mein Glück hängt von meiner Ruhe ab«, sagte er sich. Er war nahe daran, an den Gefängnisdirektor zu schreiben und ihn zu bitten, niemanden mehr zuzulassen. »Und Fouqué?« fiel ihm ein. »Wenn er es über sich gewinnt, nach Besançon zu kommen: wie sehr würde es ihn betrüben, mich nicht zu sehen!«
Seit etwa acht Wochen hatte er nicht mehr an seinen Freund gedacht. »Was für ein großer Tor war ich in Straßburg!« sagte er sich. »Meine Gedanken klebten am Kragen meiner Attila.« Die Erinnerung an Fouqué« beschäftigte ihn stark und stimmte ihn von neuem weich. Erregt ging er hin und her. »Jetzt stehe ich entschieden zwanzig Grad unter dem Gleichmut zum Tode! Wenn diese Sentimentalität noch schlimmer wird, wäre es am besten, ich bringe mich selber um. Wie hämisch würden sich Maslon, Valenod und Genossen freuen, wenn ich als Memme stürbe!«
Fouqué kam in der Tat. Der schlichte biedere Mensch war außer sich vor Schmerz. Soweit er überhaupt imstande war, einen Gedanken zu fassen, war es der: all sein Hab und Gut zu verkaufen, den Gefängniswärter zu bestechen und den Freund zu retten. Er unterhielt sich mit Julian über die Flucht des Grafen von Lavalette.
»Du tust mir weh«, sagte Julian. »Lavalette war unschuldig. Ich aber bin schuldig. Ohne daß du es willst, bringst du mir den Unterschied zum Bewußtsein ... Übrigens sage mir: Ist es wahr, daß du all dein Hab und Gut verkaufen könntest?«
Er war mit einem Male mißtrauisch und lauerig
Weitere Kostenlose Bücher